Die Niederlage der politischen Vernunft. Egon Flaig

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Die Niederlage der politischen Vernunft - Egon Flaig

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des Ersten Weltkrieges Intellektuelle nach einem Schuldigen an der europäischen Urkatastrophe suchten und ihn in den hellenischen Grundlagen fanden. Dieser Antihellenismus gipfelt in Leo Schestows Buch »Athen und Jerusalem« (1937). Es bekämpft das mit den Mitteln der wissenschaftlichen Vernunft gewonnene Wissen und vor allem die auf Vernunft gegründete Philosophie: »Das Wissen befreit den Menschen nicht, sondern verknechtet ihn!« Der Schlachtruf lautet: Nieder mit dem Wissen – es lebe der Glaube: »Und in diesem letzten Kampf, einem Kampf auf Leben und Tod, wird es dem Menschen vielleicht gelingen, endlich die wahre Freiheit zurückzuerlangen, die Freiheit der Unwissenheit, die Freiheit vom Wissen, die der erste Mensch eingebüßt hatte.«

      Das Wissen verknechtet, weil es einer auf den Geist wirkenden Notwendigkeit gehorcht, nämlich der Pflicht, logisch zu begründen. Diese Knechtschaft hat der Vernunft ihre große weltgeschichtliche Chance gegeben. Gerade diese verfemte Notwendigkeit stiftet intersubjektive Überprüfbarkeit und gewährt dem Erkannten allgemeine Verbindlichkeit, also universale Gültigkeit. Dagegen setzt Schestow eine Lösung, die aus allen Aporien der Vernunft herausführen und in unser Denken eine neue Dimension hineintragen soll, nämlich »den Glauben«.

      Die Umpolung des Denkens auf den Glauben ruft nach einer epochalen Entscheidung, wie das im apokalyptischen Denken sowohl der Rechten als auch der Linken fast immer der Fall ist. Es gilt, »diesen letzten Kampf, einen Kampf auf Leben und Tod« zu führen – gegen die Vernunft überhaupt, gegen das Hellenische schlechthin.24 Schestows Angriff auf die kulturellen Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens ist konzipiert als Kampf zwischen zwei Kulturen:

      »Darum kann die jüdisch-christliche Philosophie weder die Grundprobleme, noch die Denktechnik der rationalen Philosophie sich zu eigen machen. Wenn Athen urbi et orbi verkündet: … ›willst du dir alles unterwerfen, so unterwirf dich der Vernunft‹ – so hört Jerusalem darin die Worte heraus: ›Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest‹, und antwortet: ›Heb dich weg von mir Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen‹.«25

      Nietzsche hatte die Vernunft als eine Hure des Willens zur Macht entlarvt. Schestow folgt ihm, allerdings faßt er Ziele ins Auge, die jenen von Nietzsche diametral entgegengesetzt sind. Schestow erklärt das Griechentum zum existentiellen Feind. Dieser Griechenhaß ist bisher kaum beachtet worden. Anscheinend hat nur Derrida bemerkt, daß der kulturphilosophische Antihellenismus an politischer Wucht dem Antisemitismus in nichts nachsteht.26 Leo Schestows Fernwirkung ist nicht zu unterschätzen. Für Emmanuel Levinas stellte ›Jerusalem und Athen‹ und die Opposition von Hellenischem und Jüdischem den zentralen Bezugspunkt dar.27 Von ihm nahm er den Impuls, das Postulat aufzustellen, daß vor der Ontologie die Ethik stehe und vor der vernünftigen Einsicht der gottgegebene Befehl. Jacques Derrida hat mit Argumenten der Hegelschen Logik die Levinas’sche Scheidung von ›Selbst‹ und ›Anderem‹ widerlegt; damit war auch der Vorrang der Ethik vor der Ontologie philosophisch hinfällig.28 Levinas war außerstande, diesem Einwand etwas entgegenzusetzen und nannte die Derrida’sche Kritik 1992 einen »Mord ohne Narkose«. Er gestand damit buchstäblich ein, daß seine Philosophie nicht den Anspruch einer Philosophie hatte, sondern eigentlich eine radikale Morallehre geblieben war. Doch Diskurse, denen es an logischer Strenge gebricht, können sehr wohl überzeugen, wenn ihre moralischen Imperative konsistent aufeinander bezogen sind und auf einen Zeitgeist treffen, der ihre Unbedingtheit genießt.

      Welche Folgen Heideggers Angriff auf die Grundlagen neuzeitlicher Philosophie hatte, ist oft erörtert worden und darf hier beiseite gelassen werden. Letztlich wirkungsvoller als Heidegger haben die Gründungsväter der Frankfurter Schule die Aufklärung unterminiert. In ihrer »Dialektik der Aufklärung« nimmt das rationale Denken seinen Ursprung im Griechentum; es entspringt dem Kampf gegen den Schicksalszwang. Die Vernunft wird geboren als odysseische List der Selbsterhaltung in einer Welt voller übermächtiger Gefahren. Diesen Geburtsmakel kann die Vernunft niemals abstreifen: Vernunft ist wesensmäßig instrumentelle Vernunft und vermag sich darüber nicht zu erheben. Darum trachtete Adorno angestrengt nach einem Modus des Erkennens, der die transzendentalen Schranken der logischen Verfahren durchbricht. Im letzten Aphorismus seiner »Minima Moralia« hören wir:

      »Philosophie wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.«

      Wer wesentliches Erkennen auf Erlösung bezieht, kann den Begriff der Wahrheit dermaßen umgestalten, daß er nichts mehr zu tun hat mit seinem Gebrauch in der bisherigen Tradition: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.«29 Daß Leiden den Impuls gibt, Sinnfragen zu stellen, ist unbestritten; und es ist unbestritten, daß diese Sinnfragen manche Wahrheiten zugänglich machen. Daß aber der Drang, Leiden sprachlich auszudrücken, die Bedingung aller Wahrheit sei, ist grotesk, falls man im Rahmen des vernünftigen Denkens bleibt. Denn mit der Keule des Leidens läßt sich die Vernunft bewußtlos schlagen. Wenn Erkenntnis ihre klassische und ›Kritik‹ ihre kantische Bedeutung ablegen, dann erscheint nur noch jenes Denken als kritisch, das unaufhörlich neue Themen und Gebiete findet, wo sich auftürmendes Unheil immer schwereres Leiden verursacht. Dieses Theorem läßt sich politisch vortrefflich verwerten. Seit einem halben Jahrhundert bringen selbsternannte Opfer aller Couleur ihre Anklagen in Stellung und berufen sich auf Leiden, die nicht selten schlankweg erfunden sind. Wer tatsächlich nach dem Wahren sucht und sein Forschen danach ausrichtet, wird sich vom lautstarken Leiden nicht einschüchtern lassen. Adornos Sentenz erlaubt nicht nur, sondern fordert geradezu dazu auf, just diese Unbeirrbarkeit unter moralischen Verdacht zu stellen.

      Ohne Wahrheit keine Wissenschaft. Der Wahrheit den Rang der Leitidee abzusprechen heißt, das Ansehen der Wissenschaft im gesamten öffentlichen Raum zu beschädigen. Im akademischen Milieu lassen sich die Schäden bereits besichtigen: In den Geisteswissenschaften ist die Beschäftigung mit der Methodik, also mit den Regeln des Überprüfens und des Bewahrheitens, dramatisch zurückgegangen. Konstant sinkt die Quote derjenigen Akademiker, die imstande sind, zu prüfen und zu widerlegen. Wenn aber diese Fertigkeit, den eigenen Verstand selbständig zu gebrauchen, seltener wird, dann zerbröselt die Basis der Aufklärung.

      Nun erhebt jede Wahrheit den Anspruch auf zwingende Gültigkeit. Denken entlang der Regeln des logischen Bewahrheitens heißt eben: in Grenzen denken und sich den logischen Zwängen ebenso beugen wie den Evidenzen. Vernunftwahrheiten, so etwa mathematische Gesetze, sind weniger bedroht als faktische Wahrheiten. Aber gerade die faktischen Wahrheiten stellen jene ›Grenzen‹ dar, an denen Urteilskraft erworben wird und sich übt. Wenn sowohl die Fähigkeit, den Verstand selbständig zu gebrauchen, seltener wird, als auch die Urteilskraft nicht zur notwendigen Schärfe gelangt, dann verdunstet die Möglichkeit, die Kontroversen argumentativ auszutragen. Und wo das Argumentieren nicht mehr gelingt und unerwünscht wird, dort sehnt sich das Denken nach Bevormundung. Diese vollzieht sich, indem sie bestimmte Denkinhalte verpönt und als unstatthaft ausscheidet. Die Kriterien für solche Aussonderung können moralische, religiöse und politische sein. Die richtige Gesinnung garantiert dann für die Fähigkeit, das ›Richtige‹ vom ›Falschen‹ zu unterscheiden. Dazu mehr in einem späteren Kapitel.

      Exkludierter Universalismus –

      Lévi-Strauss und die Gleichheit der Kulturen

      Die Vereinten Nationen gründen auf einer geschichtsphilosophischen Idee: Es gibt eine einheitliche Menschheit; und diese benötigt einen einheitlichen rechtlichen Rahmen, um in einem gattungsüberspannenden Fortschritt eine immer humanere Welt zu schaffen. Indes, schon beim Verhandeln über die Erklärung der Menschenrechte subvertierte die American Anthropological Association 1947 deren Universalismus mit dem Einspruch:

      »Wie kann die vorgeschlagene Erklärung auf alle menschlichen Wesen anwendbar sein und keine Festschreibung von Rechten sein,

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