Die Niederlage der politischen Vernunft. Egon Flaig

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Die Niederlage der politischen Vernunft - Egon Flaig

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und Horkheimer haben die Aufklärung für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – insbesondere für den Faschismus – verantwortlich gemacht. Hierfür prägten sie den Begriff der Aufklärung neu: Seit der »Odyssee« Homers betreibe der abendländische Mensch Aufklärung, indem er die Verfügung über sich selber und über die Welt ständig ausweitet und intensiviert. Die Selbstbehauptung ist sein Zweck und das Opfer sein Mittel. Zweck und Mittel ketten die sich aufklärende Vernunft an einen hoffnungslos instrumentellen Gebrauch; somit diene die Aufklärung einer nur instrumentellen Vernunft, welche keinerlei utopischen Impuls verspürt und den Zwecken der technischen Perfektion gehorcht. Mit dieser Vernunft verkehre sich die Aufklärung in ihr Gegenteil und befördere das Unheil, welchem die utopische Vernunft stets entkommen wollte. Eine solche geschichtsphilosophische Konstruktion ist schierer Mythos. Seltsamerweise hat dieser adornitische Mythos bei der kulturwissenschaftlichen Linken der deutschen Geisteswelt erhebliche Wirkung gezeigt.

      Jedenfalls gaben sowohl Heidegger als auch Adorno und Horkheimer die Hoffnung auf, daß es in der Geschichte noch zu einer Wende kommen könnte. Letztere huldigten dem Credo, »daß Erlösung und Geschichte nicht ohne einander sind und nicht ineinander, sondern in einer Spannung, deren gestaute Energie schließlich nichts weniger will als die Aufhebung der geschichtlichen Welt«.1 Soll das vernunftgemäße Ziel der Geschichte in der Aufhebung der geschichtlichen Welt bestehen, und kann diese Aufhebung sich nur ereignen als Abbruch der Geschichte, dann haben wir Anlaß, uns vor einer solchen Geschichtsphilosophie zu ängstigen. Indes, in wohlbegründeter Parallelität hierzu konnte Heidegger seine Philosophie mit den Worten abschließen: »Nur noch ein Gott kann uns retten.« Was aber tun, wenn kein Gott uns rettet? Und wenn keine Erlösung naht, um die Geschichte ›abzubrechen‹?

      Viele andere Dialektiken wurden erdacht, um die Widersprüche der Aufklärung in soziologische oder geistesgeschichtliche Erklärungsmodelle einzupassen und so die Aporien der Moderne und ihres ›Projekts‹ in Begriffe zu gießen. Eine davon verengt auf entschiedene Weise den Fokus auf das Politische und die politischen Ideen, nämlich jene von Hannah Arendt. Sie stellt in »Über die Revolution« die Amerikanische und die Französische Revolution einander gegenüber: Die erste leistete einen enormen Aufwand, um eine Verfassung zu schaffen, die als dauerhafte Ordnung hinfort das Zusammenleben einer politisch partizipierenden Bürgerschaft gewährleisten sollte; die andere ließ sich zu früh abdrängen vom Ziel der politischen Freiheit, um plötzlich das ›Glück‹ der Bürger sozial und politisch herstellen zu wollen. Robespierres Apostrophe vom Mai 1792: »La république? La monarchie? Je ne connais que la question sociale«2 rückte die Frage nach der politischen Freiheit in den Hintergrund. Das Manifest des Sansculottismus vom 16. November 1793 gab der Französischen Revolution einen völlig neuen Sinn: »Le but de la révolution est le Bonheur du peuple.« Aus dem Dilemma machte Saint-Just eine avantgardistische Tugend, als er am 3. März 1794 verkündete: »Das Glück ist eine neue Idee in Europa.« Das Abgleiten in den Terror ging Hand in Hand mit der Mißachtung der politischen Freiheit. Das war nach Hannah Arendt der Sündenfall der Moderne: »Die Verwandlung der Menschenrechte in die Rechte der Sansculotten ist der Wendepunkt der Französischen und aller ihr folgenden Revolutionen.«3 Es ist die Wende nicht zur Herstellung von politischer Freiheit, sondern zur Diktatur im Interesse sozialer Ziele.

      Hier langen wir an bei jener sozialen Mechanik, die Jacob Burckhardt als moderne Paradoxie formulierte, und von der im neunten Kapitel die Rede sein soll. Arnold Gehlen hat, sicherlich in Kenntnis des Burckhardt-Paradoxes, die Gedanken von Hannah Arendt in einem anderen Sinne weitergedacht: Sogar Diktaturen sitzen nicht fest im Sattel, wenn sie die politische Wucht jener programmatischen Forderung zu spüren bekommen, die Gracchus Babeuf erhob: »Garantiert jedem einzelnen Bürger einen Zustand beständigen Glücks, die Befriedigung der Bedürfnisse Aller, ein unveränderliches Auskommen, unabhängig von der Unfähigkeit, der Unmoral und dem schlechten Willen der Machthaber!«4 Denn Glück soll politisch herstellbar sein, geradezu produzierbar. Als programmatisches Ziel verwandelt es den Staat in eine administrative Maschine, die notwendigerweise defizitär bleibt, weil das Produkt niemals den Erwartungen entsprechen kann. Der Staat wird permanent anklagbar, denn, wie es die Formulierung Babeufs ausspricht: Es kann ja nur am bösen Willen der Machthaber liegen, wenn das Glück aller sich nicht einstellt. Derselbe Staat, dem zugemutet wird, Glück herzustellen, gerät zum Widersacher, der sich berechtigten Ansprüchen des Bürgers in den Weg stellt. Aus der Ethisierung des Lebensglückes und dessen Erhebung zum höchsten Gut »folgt die moralische und somit öffentlichkeitsfähige Disqualifizierung derjenigen Mächte, die einer solchen Glücksmaximierung im Wege stehen könnten«. So liquidiert die Aufklärung auch nach Gehlens Ansicht sich selbst, weil die permanente Überflutung des Staates mit ›berechtigten Ansprüchen‹ eine institutionelle Entropie in Gang setzt. Und wenn Institutionen auf eine entropische Abschüssigkeit geraten, dann verfällt die Gesellschaft der Anomie: »Die Aufklärung ist, kurz gesagt, die Emanzipation des Geistes von den Institutionen.«5 Träfe das zu, dann überlebten weder die Institutionen noch der Geist. Diese Version der »Dialektik der Aufklärung« führt ein ganz anderes Drama auf als jenes von Adorno und Horkheimer. Und im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kann es kaum Zweifel daran geben, daß sie die Aufgabe, »die Zeit in Gedanken zu fassen«, weitaus besser erfüllt. Welche Relevanz sie für das Problem der Werte hat, das wird im weiteren Verlauf noch zu erörtern sein.

      Es ist nicht zu leugnen, daß wir vor Trümmern stehen, an denen auch das ›Projekt der Moderne‹ mitgebaut hat. Seit der Renaissance ist dieses ›Projekt‹ – nämlich die Verhältnisse der Welt auf den Menschen und seinen Willen zu stellen – unablässig angezweifelt worden. Der französische Philosoph Rémi Brague hat kürzlich dem Titel seines Buches »Die Herrschaft des Menschen« den Untertitel »Genesis und Scheitern des modernen Projekts« hinzugefügt. Es gilt einzusehen, daß es nicht hilft, auf den Prinzipien der Aufklärung zu beharren, als seien es religiöse Dogmen. Ihre Errungenschaften sind nur zu verteidigen, wenn das an der Aufklärung ausgerichtete Denken sich die Grenzen derselben eingesteht. Die Übersteigerung ›des Menschen‹, seine tendenzielle Sakralisierung führt zu absurden kollektiven Maßnahmen oder in blutige Paradiese. Aber auf der anderen Seite ist es unmöglich, den Humanismus schlicht zu opfern. Denn was sollte an seine Stelle treten? Jede Alternative zu ihm treibt vehement zur Theokratie. Wir müssen Anthropozentristen bleiben, nicht weil wir noch an die Vergottung des Menschen glauben könnten, sondern weil die Alternativen zum Anthropozentrismus gefährlich sind. Ein bescheiden gewordener Humanismus ist auf jeden Fall gut beraten, die unbedingten Imperative zu ersetzen durch hypothetische Schlüsse. Das bedeutet, sich anzugewöhnen, im Modus des »Wenn – dann« zu denken, in Konditionalsätzen zu schreiben – und oft auch zu sprechen: Wenn die Europäer sich zusammenschließen wollen zu einer freiheitlichen Republik, dann kommen sie nicht umhin, bestimmte kulturelle Phänomene schnellstens über Bord zu werfen, um wichtige Errungenschaften zu retten, so lange es noch geht.

      Negierte Vernunft:

      Absolutes Gebot und Divinisierung des ›Anderen‹

      Seitdem die deutsche Regierung den Sog der Immigration so beschleunigte, daß die Grenzen von sechs europäischen Ländern kollabierten, seitdem die islamistischen Attentate und Übergriffe in europäischen Städten sich vervielfachten und an die Schwelle zum Bürgerkrieg gelangten, und seitdem der britische Souverän entschieden hat, aus der Brüsseler Eurokratie auszuscheiden, verschärft sich die Frage, woran die öffentlich wirksamen Diskurse kranken. Bei welchen Belangen haben diese Diskurse die politische Vernunft verunstaltet?

      Das am schwersten demolierte Moment dieser Vernunft dürfte das oben angeführte Bedingnis zwölf sein, nämlich die Entgrenzung von Schuld und Verantwortung. Ein Diskurs grenzenloser Verantwortung hat die normativen Eckpunkte des Regierens in der EU erheblich verschoben. Er hat eine Politik der Grenzenlosigkeit angestoßen, die wiederum mehrere europäische Länder dazu herausforderte, gegen die eurokratischen Diktate zu rebellieren und eigenständig ihre Grenzen zu sichern. Wie konnten so viele Zeitungen Europas, so viele Publizisten und Politiker das Haupt senken vor dem Imperativ, die Migranten aller Länder unbegrenzt aufzunehmen? Es konnte geschehen, weil hegemoniale Diskurse den

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