Die Niederlage der politischen Vernunft. Egon Flaig
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Der zweite kulturelle Sachverhalt ist die mangelnde Distanz zum ›Tagesgeist‹. Der Philosoph Michael Großheim hat dieses kulturelle Syndrom brillant erörtert: Eine ansteigende Quote von Europäern erleidet die Tyrannei des Augenblicks und seiner Launen. Sie sind in wichtigen Hinsichten der diachronen Verankerung entledigt, in welcher jede Kultur ihre Menschen halten soll, sie ausstattend mit stabilen Semantiken und sie befähigend, wesentliche Entscheidungen zu treffen – entlang von internalisierten Normen und Werten, und mit offenem Blick auf biographische und kollektive Fristen. In Fristen denken heißt, über die Frist hinausdenken, den Sinn der Frist selber im Auge haben. Wer das nicht vermag, für den wird die Gegenwart zu einem abgetrennten Moment, zu einer Serie von isolierten Augenblicken – die unter Druck sich rasch eschatologisch aufladen. Fristlosigkeit disponiert zu panischen Anfällen und provoziert unter Streß eine garantierte Paranoia. In der Zeitlichkeit lebend, verstreichen uns unentwegt Fristen, denen wir gar keine, bloß geringe oder große Beachtung schenken. Vernünftiges Handeln muß unterscheiden zwischen wichtigen und unwichtigen Fristen. Verflüchtigt sich diese Unterscheidungskraft, dann wird das Handeln sprunghaft und das Denken panisch. Als der sophokleische Ödipus in höchster Bedrängnis sich an jede neu eintreffende Nachricht klammert, beklagt seine Frau Iokaste diese Haltlosigkeit: »Nicht beurteilt er/das Neue bedenkend nach dem Vergangenen/ist jedem Redner ausgeliefert« (v. 916 f).
Ödipus hat die Orientierung verloren, nämlich die Fähigkeit, das Neue zu deuten im Horizont, den das Alte gezogen hat. Wer die Orientierung verloren hat, ist jedem Windchen ausgeliefert wie eine Feder. Von allem Neuen ergriffen zu werden ist nicht Offenheit, sondern Verlorenheit. Daher die Wichtigkeit der diachronen Verankerung: Sie schützt davor, die Umschwünge des ›Tagesgeistes‹ wehrlos zu erleiden. Denn sie schafft Distanz zur eigenen Zeit, erzeugt im Geist eine gewisse Resistenz gegen die Tyrannei des Augenblicks, gegenüber den Zumutungen der kulturellen und politischen Moden. Nimmt diese Resistenz ab, dann verliert sich die kognitive Fähigkeit, Güter abzuwägen.9 Schlimmster Konformismus findet sich just nicht bei ›Konservativen‹, sondern bei den Sklaven der Aktualität. Denn Besinnung und Reflexion hängen an jener Distanz. Ohne sie ist das Subjekt den abstrusesten Einflüssen ausgesetzt, bar der moralischen Kraft, sich dagegen zu wehren. Denn internalisierte Normen behüten nicht vor den unsinnigsten Handlungen, falls die Orientierung fehlt. Daher sind moralbewaffnete Überfälle so verheerend. Aufforderungen, sich zu einer politischen oder sozialen Agenda zu bekennen, vorgetragen im Brustton moralischer Unbedingtheit, treffen auf Menschen, die, bar biographisch gesicherter Maßstäbe, außerstande sind, sich solcher Zumutungen zu erwehren. Die Apostrophie grenzenloser Mitmenschlichkeit zum Klang der manisch-moussierenden NGO-Diktion verschafft hohe Quoten der ›Sensibilisierung‹. Indes, ein solcherweise moralisch stimulierter Enthusiasmus zertrümmert bei den derart Überwältigten nicht allein die Urteilskraft. Just bei engagierten Menschen erniedrigt er obendrein die Intellektualität überhaupt – besonders dann, wenn im biographischen Ablauf solche Widerfahrnisse sich wiederholen und der erloschene Enthusiasmus in die ernüchterungslose Verbitterung eines fanatischen Blindgebliebenseins einmündet – ein Thema, das uns im zehnten Kapitel begegnen wird. In dieser Perspektive erhält auch die vielbeklagte Kurzatmigkeit von Politik in den repräsentativen Demokratien eine neue Färbung. Sie schuldet sich nicht allein den Rhythmen der Wahlkämpfe und den Legislaturperioden. Sie resultiert vor allem aus der geistigen Sozialisation der politischen Klasse. Deren Individuen haben nicht mehr gelernt, sich an geschichtlichen Haltepunkten zu orientieren. Das macht sie anfällig für moralgespickte Anfechtungen.
Diese beiden Sachverhalte erklären weitgehend die erstaunliche Empfänglichkeit des Zeitgeists für das Dostojewskij-Theorem mit seinen politmoralistischen Travestien. Letztere haben innerhalb einer Generation die im Öffentlichen zulässige politische Semantik umgewälzt. Wir stehen nun den Resultaten gegenüber, von denen fünf mit obszöner Aufdringlichkeit die Diskussionen belagern.
Erstens hat diese diskursive Konstellation ein neues Ideologem der ›Offenheit‹ erzeugt. Dieses entspricht exakt den Vorgaben der Levinas’schen Philosophie: Sie bekundet wenig oder gar kein Interesse am ›Anderen‹ als Fremden. Davor hatte Arnold Gehlen gewarnt: »Wer jeden Menschen schlechthin in seiner bloßen Menschlichkeit akzeptiert und ihm schon in dieser Daseinsqualität den höchsten Wertrang zuspricht, kann die Ausbreitung dieses Akzeptierens nicht mehr begrenzen, denn auf dieser Bahn gibt es keinen Halt.«10 Unwichtig ist es, den Fremden zu verstehen; nicht sein Sprechen zählt, sondern nur sein menschliches Antlitz, dessen Anblick mich unter den absoluten Imperativ stellt, ihn nicht allein zu schonen, sondern ihm grenzenlos zu helfen. Diese Hilfe sabotiert, wer es wagt, nach den Zeiträumen für das Helfen zu fragen und nach dem Verteilen von knappen Ressourcen; denn absolute Imperative setzen sich über Zeit und Ressourcen hinweg. Das absolute Gebot verlangt, dem ›Anderen‹ keine Fragen zu stellen und womöglich von den Antworten das eigene Handeln abhängig zu machen. Verstehen ist geradewegs untersagt. Verstehen hieße, den Fremden nach seinen kulturellen Besonderheiten fragen. Und aus dieser Frage entquellen sofort weitere Fragen, zuvorderst die, ob das kulturelle Sein des ›Anderen‹, dem wir nächstenliebend helfen, sich mit unserem eigenen kulturellen Sein verträgt oder nicht, bzw. an welchen Stellen die Divergenzen zu Unverträglichkeiten werden. Was, wenn wir entdeckten, daß der ›Andere‹ mitnichten bereit ist, uns als gleichwertige Menschen anzuerkennen? Was, wenn der ›Andere‹ ein Feind ist, welcher die Lebensweise des Helfers radikal ablehnt und kompromißlos bekämpft?
Die ›Divinisierung des Anderen‹ bekommt hier plötzlich einen strategischen Sinn: Sie schneidet jede solche Frage ab und unterwirft sie dem Verdacht: Wer fragt, scheint nach Gründen zu suchen, um sich der Pflicht zur Nächstenliebe zu entziehen. Welcher Art der ›Andere‹ kulturell sei und was dieses Sein für uns politisch bedeute, dies nachzufragen wird geradezu anstößig. Genausowenig wie das grenzenlose Akzeptieren zuläßt, Fragen nach dem kulturellen Sein zu stellen, gestattet es, nach Recht zu verfahren und Gesetze anzuwenden. Wo der Imperativ der Entgrenzung waltet, dort gilt kein Recht und kein Gesetz, dort gelten auch nicht die Menschenrechte; denn diese definieren und begrenzen die Rechte von Fremden. Das absolute Gebot bricht jedwedes Recht; somit subvertiert das entgrenzte Akzeptieren notwendig die Verfassung und die Fundamente einer Republik.11 Die kognitive Dimension ist dem Gebot bedingungslos untergeordnet; denn die Ethik hat Vorrang vor der Ontologie. Das Wissen dermaßen außer Kraft zu setzen, benimmt aller Besinnung den reflexiven Atem. Zudem bestürzt die kompromißlose Entintellektualisierung. Offenheit ist nicht mehr Offenheit des Geistes und des Erkennens; sie ist heruntergestutzt auf die Offenheit des Ohres für den Hilferuf des ›Anderen‹, genauer: für den Befehl, dem bedingungslos zu gehorchen ist. Diese Philosophie ist keine; sie funktioniert nur mit ausgeschaltetem Intellekt. Sie ist buchstäblich eine Ideologie der Entgrenzung, für die in höchstem Grade gilt, was Régis Debray auf alle Ideologien münzte: »In einer Ideologie zählen am wenigsten die Ideen.«
Zweitens hat die Obsession des uferlosen Helfenmüssens Breschen geschlagen, um die Öffentlichkeit mit Phantasmagorien eines politischen Heilszustandes zu überfluten. Wenn Verantwortung keine Kategorie mehr ist und zwischen Tun und Folgen keine verbindlichen Bezüge mehr herstellt, dann läßt sich jedes moralische Gebot ins politische