Die Niederlage der politischen Vernunft. Egon Flaig
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Wie kam es zu dieser Idee? Es ist der Philosoph Emmanuel Levinas gewesen, der die grenzenlose Verantwortung zum Prinzip erhob. Entnommen hat er sie aus Dostojewskijs »Die Brüder Karamasoff«. Dort belehrt der Staretz Sossima seine Mitmönche, ein jeder habe zu erkennen:
»… daß ein jeder von uns schuldig ist für alle und alles auf Erden, darüber besteht kein Zweifel, und dies nicht nur durch seinen Anteil an der allgemeinen Weltschuld, sondern ein jeder von uns ganz persönlich für alle Menschen und für jeden einzelnen Menschen auf dieser Erde … Erst nach dieser Einsicht kann sich unser ergriffenes Herz zu jener unendlichen Liebe weiten, die die ganze Welt umspannt und keine Sättigung kennt. Dann wird auch jeder von Euch die Kraft haben, die ganze Welt durch seine Liebe zu erringen und mit seinen Tränen die Sünden der Welt abzuwaschen.«6
Wenn alle schuldig sind, dann gibt es keine Verbrecher mehr. Dann zerlaufen alle Konturen der Verantwortung für eigenes Handeln. Folgerichtig hören die Gerichte auf, Recht zu sprechen; denn die Richter sollen nicht mehr urteilen und strafen, sondern verzeihen. Mitgedacht ist die Allgnade, welche letzten Endes alle Schuld tilgt und vom Bösen nichts mehr übrig läßt: Am Ende entkäme somit selbst der Teufel nicht der Gnade, welche ihn heimholt. Die großartige Idee der menschlichen Zusammengehörigkeit – hinweg über Zeiten und Länder – ist hier in einer Radikalität gedacht, die sogar über die Bergpredigt hinausgeht.
Wenn die Erlösung zum politischen Programm wird, droht Unheil. Was als regulative Idee erhaben ist und nicht zu überbieten, das erweist sich als konstitutive Idee – als Maxime praktischen politischen Handelns – als tödlich für alles Recht. Der Staretz scheut sich nicht, der Liebe des einzelnen Menschen eine geradezu gotteslästerliche Allmacht zuzusprechen: Sie bewirke, daß jeder einzelne die Sünden der Welt abzuwaschen vermag. Diese metaphysische Vollmacht irritiert; doch sie ist notwendig als Widerlager der Allschuld. Ohne diese Allmacht müßte die allschuldige Seele verzweifeln oder sich ins Sicherheitsnetz der Allgnade fallen lassen. Mit dieser Allmacht bedürfen die Menschen keiner Gerechtigkeit mehr, können sie doch jederzeit in einen paradiesischen Zustand eintreten.
Radikalisiert man das Mitleid und treibt man die Solidarität bis zum Äußersten, dann läßt sich die extreme existentielle Anspannung nur durchhalten, wenn die Idee der Allschuld obsessiv vorwärtspeitscht. Diese Allschuld ist ersichtlicherweise kein moralisches Thema mehr, sondern ein kosmisches. Wenn menschliche Schuld herausgelöst wird aus den Verflechtungen des eigenen Handelns, dann verliert sie ihre moralische Qualität. Werfen wir einen Seitenblick auf die griechische Tragödie. Sie umkreist zwanghaft das Thema, daß alles Handeln Folgen hat, die auf den Handelnden zurückschlagen. Denn ein Tun-Ergehens-Mechanismus sorgt für eine unbestimmbare Gerechtigkeit; und weise ist es, aus Widerfahrnissen und Leiden zu lernen: ›Bedenke die Folgen!‹ Wenn nun diese Folgen sich entufern, dann können sie nicht bedacht werden; und dann sind sie nicht mehr auf das Handeln des einzelnen oder der Kollektive beziehbar. Ist aber die Zurechenbarkeit stillgelegt, dann ist weder verantwortliches Handeln möglich, noch heldisches Einstehen für die Konsequenzen der eigenen Entscheidung. Wenn Folgen und Tun in keinerlei sinnhaftem Zusammenhang mehr stehen, dann verflüssigt sich der Boden für jede konsequentialistische Moral. Das entgrenzte Denken ist prinzipiell antitragisch. Konsequentialismus und Tragik verlöschen in ihm vollständig.
Gegen die Politische Vernunft richtet sich das Dostojewskij-Theorem in drei Hinsichten: Zum ersten wischt es die Zeithorizonte menschlichen Lebens aus. Wenn wir heute noch ins Paradies eintreten können, dann bedarf es keiner Zukunft mehr. Und wenn die All-Liebe eines einzigen imstande ist, die Sünden der Welt abzuwaschen, dann ist die großartige Idee von Hermann Lotze sofort einlösbar: Nämlich daß die Lebenden die Pflicht hätten, die Vergangenheit zu erlösen. Zum zweiten kollabiert die Sphäre des Politischen augenblicklich und vollständig. Denn in der bergpredigthaften Hingabe für die Mitmenschen ertrinkt jedwede Selbstbehauptung, sowohl die individuelle als auch die kollektive. In diesem Zustand wird es sinnlos, Fristen zu bedenken. Treffend nannte Blaise Pascal die Voraussetzung für ein Leben entlang der Seligpreisungen: ›Tun wir so, als hätten wir nur acht Tage zu leben‹. Zum dritten entwertet sich die Urteilskraft brüsk und restlos, sobald die Erlösung zum Leitmotiv des Denkens wird.
Das Denken von Emmanuel Levinas erhielt Aufwind während der Diskurswende der letzten beiden Jahrzehnte, als jäh klar wurde, daß die Annahme einer fortschreitenden Säkularisierung bestürzend naiv war. Seine Philosophie erfreut sich einer unentwegt steigenden Aufmerksamkeit nicht zuletzt wegen ihres dostojewskijschen Kerns. Levinas ist derjenige unter den modernen Philosophen, der die Vision des Staretzen Sossima in die Sprache der Philosophie übersetzt hat – freilich modifiziert. Zunächst schneidet der jüdische Philosoph die ostkirchliche Idee der Allgnade aus der Vision heraus. Damit verändert sich die theologische Qualität der moralischen Maxime, denn ihr fehlt die tröstliche Umfassung. Ferner formt er aus der Allschuld eine »grenzenlose Verantwortung«. Die moralische Haltung, welche aus der Einsicht entspringt, an allem schuldig zu sein, schmiedet er um zu einer absoluten Pflicht; diese ist kein kategorischer Imperativ, sondern ein göttliches Gebot, das unbedingten Gehorsam verlangt.
Da im 20. Jahrhundert der Begriff der ›Wahrheit‹ unter dem Dauerfeuer der Gegenaufklärung den Rückzug antrat, zog Levinas die äußerste Schlußfolgerung und verkehrte die griechische Rangfolge zwischen Wahrheit und Moral ins Gegenteil: Die Pflicht – nämlich für den ›Anderen‹ grenzenlos verantwortlich zu sein – steht höher als die Wahrheit; die Ethik steht höher als die Ontologie. Levinas ist sicher, daß eine solche Fürsorge ohne Grenzen den Verlauf der menschlichen Geschehnisse erheblich verändern kann: »Daß die unbegrenzte Verantwortung für den anderen – eine totale Entkernung des Selbst – sich in die konkrete Geschichte übersetzen kann, das denke ich.«7
Den ›Anderen‹ auf diese Weise zu sakralisieren zeitigt Folgen, die kein guter Wille ertrüge, falls er bereit wäre, ihnen ins Auge zu sehen. Es gibt nicht ›den Anderen‹; er hat soziologisch und historisch niemals existiert. Es ist ein Kollektivsingular; und solchen Begriffen eignet die Kraft zu verwischen und zu verdinglichen. Der ›Andere‹ suggeriert eine Beziehung zwischen ›ich‹ und ›Du‹. Diese gibt es, außer auf Robinsons Insel, nirgendwo. Man begegnet immer ›den Anderen‹. Und mit dieser Tatsache verwandelt sich das ethische Problem in ein soziales, im Ernstfall sogar in ein kulturelles. Wenn es um ›die Anderen‹ geht, dann befinden wir uns bereits in einem binären ›Wir/Ihr‹ Schematismus, den nicht wir erzeugt haben. Erzeugt hat ihn die bloße Situation selber, aber noch mehr der Wille der ›Anderen‹, als ›Andere‹ gelten und sich behaupten zu wollen. Kombiniert mit spezifischen Rechten, die kodifiziert und schnell einklagbar sind, weil ein Justizsystem sie garantiert, verwandelt dieser Wille jeden noch so bedürftigen ›Gast‹ in einen potentiellen Feind. Die Entschlossenheit, der ›Andere‹ zu bleiben, bedeutet, das ›Gastrecht‹ auszunutzen, um sich dem Recht zu entziehen. Denn das Recht in einer Republik duldet keinen ›Anderen‹, sondern nur Gleiche. Wolfgang Kersting hat den antirepublikanischen Gehalt dieser ›Divinisierung des Anderen‹ benannt: Sie übertönt mit Parolen aus der Bergpredigt die desaströsen Auswirkungen der Koexistenz von unterschiedlichen Lebenswelten, in denen jeweils ›Andere‹ ihren eigenen Normen und Werten gemäß leben; und sie sakralisiert Parallelgesellschaften.8
Der obige Satz von Levinas entzieht dem Wort ›Verantwortung‹ seine Qualität als Kategorie. Denn Kategorien definieren, sie begrenzen. Eine ›unbegrenzte Verantwortung‹ ist ein logisch widersinniger Begriff; sie ist bar aller kategorialen Qualität und bloß ein Schlagwort der moralischen Gefühlsdogmatik, beeindruckend wegen seines erhabenen Klangs. Daß hier politische Theologie lauert, ist nicht zu überhören. Denn in die konkrete Geschichte hineinwirken heißt allzumeist, das Politische selber beeinflussen und den Staat in die Regie nehmen. Die Obsession der grenzenlosen Verantwortung hätte den politischen Raum in der EU in den Jahren 2012 bis 2016 nicht dermaßen verwüsten können, wenn nicht zwei Umstände die Bereitschaft zu ihrer Rezeption erhöht hätten, nämlich neue Evidenzrahmen und der starke Schwund an ›temporaler Distanz‹.
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