Ein Sommer in Berlin. Beate Vera
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Ich stand nun also mit dem aktuellen Schreiben von Hannos Anwalt vor dem Spiegel in meinem Schlafzimmer. Was dachte Hanno sich nur dabei, seinen Anwalt derartige Briefe aufsetzen zu lassen? Ich verstand sein Verhalten nicht nur mir, sondern vor allem auch den Kindern gegenüber von Woche zu Woche weniger. Er führte einen bestens organisierten Kleinkrieg gegen mich, und ich hatte nichts, um mich dagegen zur Wehr zu setzen. Ich kam mir vor wie eine Maus, die mit gebrochenen Hinterbeinen darauf wartete, dass die Katze sie endlich verschlänge. Die aber schubste das lustig zappelnde Ding nur weiter hin und her.
Seit seinem ersten Schreiben waren neun Monate vergangen. Neun dunkle, kalte, hässliche Monate, in denen ich meinen Kindern wieder und wieder erklären musste, warum ihr Vater nicht nur unser Zuhause verlassen hatte, sondern dieses Zuhause auch verkauft hatte und wir umziehen mussten. Neun schlaflose, durchweinte und verzweifelte Monate, in denen ich zu viel trank und große Angst vor der Zukunft hatte. Neun Monate, in denen ich funktionierte, damit die Geschehnisse – Trennung, Umzug, neue Schulen, Mama am Rande eines Nervenzusammenbruchs – für die Kinder möglichst wenig belastend wurden.
Den Weihnachtsabend hatte ich alleine verbringen müssen. Hanno hatte darauf bestanden, dass die Kinder das Weihnachtsfest mit ihm und Dana in Berlin-Mitte feierten. Franziska hatte ihre und die Eltern ihres Mannes bei sich und bedauerte, mich nicht dazubitten zu können, und meine Eltern waren ebenfalls furchtbar enttäuscht, den Heiligen Abend ohne ihre Enkel verbringen zu müssen, und hatten sich von Freunden in ein Restaurant einladen lassen. Ich hätte davor nicht für möglich gehalten, dass man jemanden so vermissen konnte, dass es körperlich schmerzte. Um vier öffnete ich eine Flasche Rotwein. Als Hanno die Kinder zurückbrachte, war die dritte zur Hälfte leer – und ich betrunken. Anders hätte ich diesen Tag nicht überstanden.
Die Kinder hatten eigentlich bei ihrem Vater übernachten sollen, aber die drei hatten abends um halb neun so lange Terror gemacht, bis er nachgegeben und sie nach Hause gefahren hatte. Hannos Blick hatte Bände gesprochen, als er mich im Türrahmen unserer neuen Wohnung stehen sah.
Hannos Anwalt listete in dem zweiseitigen Brief, den ich in meiner zitternden Hand hielt, speziell diesen Vorfall als deutlichen Beweis für meine Unfähigkeit auf, Herrn Hechts Kindern ein stabiles und liebevolles Umfeld zu gewährleisten. Frau Sroka hingegen habe ein neues Haus in Köpenick gekauft, in welches sie mit Herrn Hecht und dessen Kindern einzuziehen gedenke. Es verfüge über einen weitläufigen Garten und drei große Kinderzimmer, die auf ihre neuen Bewohner warteten. Genau wie Wanja, der Golden Retriever, den Frau Sroka aus pädagogischen Gründen angeschafft habe. In der Nähe läge eine wunderbare internationale Ganztagsschule, die alle drei Kinder besuchen könnten und ein phantastisches Angebot an Arbeitsgemeinschaften und weiteren Freizeitangeboten für die Schüler böte. Ich dürfe die Kinder jedes zweite Wochenende und jeweils die Hälfte der Ferienzeiten sehen, so ich dieses Angebot akzeptiere. Überdies schlug Herr Doktor Wittig vor, das offizielle Trennungsdatum einvernehmlich um vier Monate rückzuverlegen, so dass er die Scheidung unmittelbar einreichen könne. Es sei mir sicherlich ebenfalls daran gelegen, möglichst schnell klare Verhältnisse zu schaffen. Für den Fall, dass ich seinen Wünschen nicht entspräche, behielte Herr Hecht sich vor, das Jugendamt einzuschalten und das alleinige Sorgerecht einzuklagen.
Damit war Hanno zu weit gegangen! Ich ließ die Hand, in der ich das Schreiben hielt, sinken und blickte ganz genau in den Spiegel. Ich sah eine mittelgroße Frau mit großen blaugrauen Augen, unter denen dunkle Schatten lagen, einer klassischen Nase über einem vollen Mund, blassen und aufgesprungenen Lippen, fahler Haut und strähnigen Haaren, einem vollen Busen über einem erkennbaren Bauch und üppigen Hüften sowie kräftigen Schenkeln, die die weite graue Jogginghose nicht verbergen konnte, sondern eher noch betonte. Das vor fünfzehn Jahren aufgenommene Foto, das ich im Spiegel an der Wand hinter mir sehen konnte, zeigte eine völlig andere Person. Die schlanke, sportliche Frau dort strahlte, sie sah ausgesprochen glücklich aus. Ihr aschblondes Haar leuchtete, sie war leicht gebräunt und trug ein knielanges Sommerkleid, das ihr ausgesprochen gut stand. Wie hatte ich es nur so weit kommen lassen können?
Ich zerknüllte das Papier in meiner Hand, sah meinem Spiegelbild tief in die Augen und fasste einen Entschluss: Hanno Hecht würde sich meine Kinder nicht schnappen!
Mit der neuen Wohnung hatten wir unglaublichen Dusel. Unser Vermieter, Herr Meyerbeck, hatte sich schon lange nicht mehr um seine Immobilie gekümmert. Heiner Meyerbeck war ein älterer Herr, der sich für das von seinen Schwiegereltern geerbte Haus nicht mehr interessierte, seit seine Frau Magda zwei Jahre zuvor verstorben war. Der Makler, der dort seine Geschäftsräume gehabt hatte, hatte vor kurzem gekündigt, weil er sich vergrößern wollte. Seitdem stand das Gebäude leer. Aufgrund der Lage hätte Herr Meyerbeck sehr viel Geld für das Haus bekommen können, doch es zu verkaufen interessierte ihn nicht. Herr Meyerbeck war ein sehr guter Freund meines Vaters und der Nachbar meiner Eltern. Er hatte einen äußerst eigenwilligen Bluthund namens Hugo, einen ehemaligen Zollhund, dem er zu einem verdient gemütlichen Ruhestand verholfen hatte. Er war selbst pensionierter Zollbeamter und fand, man müsse zusammenhalten. Paps hatte Herrn Meyerbeck um Hilfe gebeten, und der hatte nichts dagegen, dass wir die Wohnung im obersten Stock bezogen, wenn wir ein Auge auf die leerstehenden Ladenräume darunter hätten. Das Haus war denkmalgeschützt, die Wohnung war renovierungsbedürftig und lag an der vielbefahrenen Potsdamer Straße, deren Verlängerung über Zehlendorf und Nikolassee bis nach Wannsee führte – und die Miete, die Herr Meyerbeck für die Fünfzimmerwohnung haben wollte, war lachhaft.
Glück hatten wir auch mit den Nachbarn. Im Nebenhaus wohnte Familie Alvarez Garcia, die Kinder freundeten sich schon kurz nach unserem Einzug an. Astrid Alvarez hatte ihren Mädchennamen Marotzke abgelegt und den wohlklingenden Nachnamen ihres Mannes angenommen. Sie war Kinderärztin und arbeitete in Teilzeit in einer Praxis, die in unmittelbarer Nachbarschaft lag. Astrid war im Kiez bekannt wie ein bunter Hund, obwohl die Familie erst seit drei Jahren hier wohnte. Astrids Mann hatte aus beruflichen Gründen von Barcelona nach Berlin wechseln müssen.
Am Tag unseres Einzugs kam sie am frühen Abend mit einer Paellapfanne von enormer Größe, einer Flasche Rotwein, zwei Gläsern und ihren Kindern vorbei, um uns willkommen zu heißen. »Hallo! Wir wohnen nebenan, ich bin Astrid, das hier sind Marisol, Jake und Pilar, meine Kinder. Wir haben Sie einziehen sehen und dachten uns, Sie haben sicher nichts Vernünftiges im Kühlschrank an so einem Tag und noch viel zu tun. Da haben wir kurzerhand eine Paella gemacht. Ich hoffe, Sie mögen Paella!« Sie wandte sich an die Kinder. »Und wer seid ihr?«
Die drei stellten sich vor, und ich nahm dieser wunderbaren Frau die Pfanne ab. Das Reisgericht roch phantastisch. »Das ist furchtbar nett von Ihnen. Aber kommen Sie doch erst einmal herein! Helene, kannst du dich mit den Jungs ums Tischdecken kümmern, bitte?«
Die sechs Kinder trabten an den Esstisch im Wohnzimmer und verteilten Teller, Gläser und Besteck. Ich zog in der Küche den Korken. Hätte ich noch in Kleinmachnow unter Hannos Fittichen gestanden, hätte ich ihren Besuch übergriffig finden müssen. An jenem Abend war ich einfach nur froh über die freundliche Geste und die Ablenkung, denn nicht nur die Wohnung, sondern auch wir vier befanden uns in einem desolaten Zustand. Franziska hatte keine Zeit gehabt, uns unter die Arme zu greifen. »Beruflich zu viel zu tun, und am Abend die Doppelstunde