Ein Sommer in Berlin. Beate Vera
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»Mama, seit wann hörst du denn so übelst krasse Musik?«, hakte Helene nach.
Ich legte das Küchenmesser beiseite und blickte meine große Tochter an. Sie war nur noch ein paar Zentimeter kleiner als ich, hatte dunkelblonde lange Haare, strahlend blaue Augen, eine hübsche Stupsnase und einen geschwungenen Mund, der seit einiger Zeit viel zu selten lächelte. Pubertät war ein hässlicher Job, und wenn man vom Vater hängengelassen wurde, war er besonders hässlich. Nicht zum ersten Mal dankte ich meinen Eltern innerlich für die Dominanz ihrer Gene, die dafür gesorgt hatten, dass meine Kinder ihrem Vater nur wenig ähnelten. Helene würde ihre Zahnspange zwar noch ein Jahr tragen müssen, aber selbst mit dem Metallgebiss war sie ein hübsches Mädchen. Sie war im Laufe der letzten Monate stark gewachsen, und ihre Züge hatten jene Kindlichkeit verloren, die ich ihr im vergangenen Sommer noch hatte ansehen können. Sie war, vermutlich auch durch die Ereignisse im Herbst und Winter, zu einer jungen Frau herangereift. Mir schwante, dass ich ein gewisses Thema nicht mehr lange vor mir herschieben konnte. Zunächst galt es aber, mir ein paar Pluspunkte in Sachen Musikgeschmack zu verschaffen.
»Lelli, ich habe früher ganz viel krasse Musik gehört.« Den Spitznamen hatte sie von ihrem Bruder bekommen. Vincent hatte seine große Schwester so genannt, als er noch nicht richtig sprechen konnte. »Du hast dir wohl nie die Mühe gemacht, mal meine CDs durchzusehen, was?« Jetzt galt es, meinen größten Trumpf auszuspielen. »Ich habe sogar 1998 einen der ersten Coldplay-Auftritte gesehen, in Camden, als die noch niemand kannte. Das war gigantisch!« Das ganze Wochenende mit Quinn in London war gigantisch gewesen, wenn ich so darüber nachdachte.
Helene klappte die Kinnlade herunter. Coldplay war ihre absolute Lieblingsband. Dann schloss sie ihren Mund wieder, sagte noch einmal »Krass!« und stellte sich neben mich an die Arbeitsplatte. Es war schon lange nicht mehr vorgekommen, dass Helene mir freiwillig im Haushalt half. Sie nahm das Küchenmesser und schnitt die Möhren in Halbkreise. Das Telefon klingelte. Ich fand das Mobilteil unter der Zeitung und ging damit in den Flur.
Caterina Thomas.«
»Trinchen, hier ist deine Mutter.«
Ich hatte irgendetwas tun müssen, das mir nach den vergangenen Monaten wenigstens ein Stück weit das Gefühl der Ohnmacht nahm, und im März meinen Mädchennamen wieder angenommen. Frau Krause, eine sehr freundliche und verständnisvolle Mitarbeiterin des Bürgeramtes, hatte dies möglich gemacht. Ich hatte ihr erklärt, was geschehen war, und sie befand kurzerhand, der Nachname Hecht sei einzuordnen in die Kategorie lächerlicher Nachnamen, böte überdies Anlässe zu frivolen Wortspielen, und gab meinem Antrag auf Namensänderung statt. Beim Osteressen informierte ich meine Familie über den neuen alten Namen und über meinen Entschluss, auch den ungeliebten, von Hanno kreierten Spitznamen abzulegen, und bat alle, mich wieder Catia zu nennen. Ich hatte die Bitte an meine Mutter, mich nicht mehr Trinchen zu nennen, in den vergangenen Wochen gebetsmühlenartig wiederholt.
»Mama, wärst du so gut und nennst mich nicht mehr Trinchen? Diese Zeiten sind vorbei. Du hast doch früher auch immer Catia gesagt.«
Es folgte die Art beredtes Schweigen, wie sie nur meine Mutter hinbekam. Dann holte sie tief Luft, als müsse sie sich gegen weiteren Wahnsinn wappnen. »Wie du meinst, Trin … ich meine, Catia. Ich denke nur nicht, dass das in deiner Situation irgendeinen Unterschied macht.«
In »meiner Situation«! Was sie nicht aussprach, war der stille Vorwurf, an »meiner Situation« sei eindeutig ich selber schuld. Ich hatte den großartigsten aller Schwiegersöhne vergrault. So liederlich, wie ich mich kleidete, konnte das ja auch nicht wundernehmen. Und mein Haushalt ließ ebenfalls genug zu wünschen übrig. Richtige Ordnung, wie sie ein derart erfolgreicher Mann wie Hanno wohl verlangen konnte, herrschte dort nämlich nie.
Warum steht sie nie auf meiner Seite?, fragte die Fünfzehnjährige in mir. Die Fünfundzwanzigjährige neben ihr fügte hinzu: Und warum ist sie zugleich so abgebrüht im Stricken boshafter Zusammenhänge?
Meine Mutter, die seit meiner Geburt strengste Diät hielt, war der Typ Hausfrau aus den sechziger Jahren, bei der sich nie etwas nicht an seinem Platz befand. Sie putzte das gesamte Haus zweimal in der Woche und duldete keinen Staub und keine Fusseln oder Krümel auf den ihr untergebenen Flächen. Eigentlich war sie dauernd mit einem Lappen oder dem kleinen Handstaubsauger unterwegs. Mein Vater verbrachte, seitdem er in Rente war, seine Tage vermutlich auch deswegen lieber bei seinem Freund und Nachbarn, dem seit drei Jahren verwitweten Heiner Meyerbeck, unserem freundlichen Vermieter. Jedenfalls war das meine Interpretation der Lage daheim im Eggepfad, der im schönen, grünen Zehlendorf in Laufweite zu den Badeseen Krumme Lanke und Schlachtensee lag.
Meine Vornamen verdankte ich übrigens Papas Lieblingssängerin, niemand Geringerem als der Valente. Da meine Mutter seinen Musikgeschmack und seine Vorliebe für Urlaube in Italien teilte, hatte sie ausnahmsweise einmal nichts an seinem Vorschlag auszusetzen, und so wurde ich Caterina Germaine Maria Valentina Thomas getauft. Es gab schlimmere Namen, auch wenn ich auf Behörden und bei der Bank nie ums Buchstabieren und, im Falle älterer Sachbearbeiter, atonale Interpretationen von Ganz Paris träumt von der Liebe herumkam.
»Mama, ich möchte es so! Ist euch allen eigentlich nie aufgefallen, dass Trine nach ausgeleierten Jogginghosen in Größe 46 klingt? Ich habe diesen Namen jedenfalls gründlich satt!« Wie die Jogginghosen, setzte ich in Gedanken dazu.
Meine Mutter wäre nicht meine Mutter, wenn sie nicht noch einen draufgesetzt hätte. »Ach, Trin …, ich meine, Catia, da hilft doch kein neuer Name. Was dir fehlt, ist Disziplin! Das habe ich dir doch schon so oft gesagt. Disziplin ist das A und O, wenn man einen Mann halten will. Wenn man aufhört, diszipliniert auf sich achtzugeben, ist es nur eine Frage der Zeit …«
Ich ließ Telefon und Schultern resigniert hängen und ging ins Wohnzimmer. Dort trat ich ans Fenster und schaute hinaus auf die Potsdamer Straße. Gegenüber lag ein hässlicher Betonblock und verschandelte seit Jahrzehnten die Ecke zwischen Rathaus und Dorfkirche. Die Büsche auf dem Mittelstreifen blühten, was das Zeug hielt, die Sonne strahlte vom Himmel, und kaum ein Passant trug jetzt, Anfang Juni, noch eine Jacke. Ich schaute mich in unserem gemütlichen Wohnzimmer um.
Der Großteil von Hannos Überbrückungsgeld war für die Renovierung der Wohnung und den Umzug draufgegangen. Unter der hässlichen Auslegeware, die außer in Küche und Bad überall in der Wohnung verlegt gewesen war, waren alte Dielen zum Vorschein gekommen. Astrid hatte zwei Helfer organisiert, die das Abschleifen und Versiegeln der schönen Holzböden übernommen hatten. Das hätte ich beim besten Willen nicht alleine geschafft. In der Küche lag ein Linoleumboden, den ich nur gründlich hatte abkärchern müssen, seitdem sah er wieder ganz passabel aus, und man erkannte den Farbton wieder als freundliches Grau. Die alte Einbauküche würde ich im Sommer angehen, bis dahin war sie sauber und funktional, das würde reichen. Im Malern machte mir keiner so schnell etwas vor, und der hilfreiche Besitzer vom Farb- und Malerbedarfsladen gleich um die Ecke in der Clayallee überließ mir Tiegel aus einem Restposten zu einem sehr günstigen Preis.
Dem Bad war ich ebenfalls mit dem Kärcher zu Leibe gerückt. Nachdem die Wand- und Bodenfliesen wieder ihre ursprüngliche sandbraune Farbe angenommen hatten, hatte ich die nicht gefliesten Wandflächen und die Zimmerdecke hellblau gestrichen. Ich hatte die alte Badeinrichtung hinausgeschmissen und einen Spiegelschrank, einen hohen Schrank sowie einen passenden Waschbeckenunterschrank montiert – alles aus weißlasiertem Holz. Unzählige Italienurlaube mit meinen Eltern, spätere Frankreichaufenthalte und meine große Liebe zur französischen Sprache und der Kultur des Nachbarlandes hatten ihre Spuren hinterlassen. Ich mochte alte mediterrane Häuser und hatte schon immer davon geträumt, einmal in solch einem Stil zu wohnen. Hanno bevorzugte klare Linien, so dass das bislang