Ein Sommer in Berlin. Beate Vera

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Ein Sommer in Berlin - Beate Vera

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Pilar würde auf die Kinder aufpassen. Sie hatte gleich zugesagt, und ich hatte Helenes Proteste ignoriert. Die wähnte sich alt genug, einen Abend lang das Kommando zu übernehmen und ihre kleinen Brüder herumzuscheuchen, während sie selbst stundenlang chattete – so vermutete ich jedenfalls.

      »Sie sehen toll aus, Frau Thomas!« Pilar schaute einmal an mir hoch und wieder herunter.

      Ich musste zugeben, ich fühlte mich geschmeichelt. »Danke, Pilar. Den Zuspruch kann ich brauchen, ich war so lange nicht mehr aus. Na ja, wird schon schiefgehen!«

      Mit einer Ermahnung an mein Trio, auf Pilar zu hören und nicht zu spät ins Bett zu gehen, drückte ich der Siebzehnjährigen einen Zettel mit Instruktionen und meiner Handynummer in die Hand. »Egal, was ist, du rufst mich an, wenn es ein Problem geben sollte! Ich mache mich dann sofort auf den Weg.«

      Pilar schmunzelte. »Hier wird es keine Probleme geben, Frau Thomas. Machen Sie sich einen schönen Abend und keine Sorgen! Ich habe das eine oder andere As im Ärmel. Viel Spaß!«

      Kam es mir nur so vor, oder schob sie mich geradezu über die Schwelle? »Na gut, um halb zwölf bin ich wieder zurück. Spätestens!«

      Doch Pilar hatte die Wohnungstür schon hinter mir geschlossen. Auf in die eigene Vergangenheit!

      Die Phoenix Lounge hatte sich nicht verändert, und ich fühlte mich sofort wieder heimisch. Ich sah das vertraute Dekor, den langen Tresen vor der rechten Wand des Lokals, die alten Tische und Bänke im hinteren Teil des Gastraums. Dann stockte mir der Atem. Hinten, in unserer alten Ecke, saß er. Quinn hatte mich noch nicht bemerkt, er las ein Buch.

      Unzählige Male hatte ich ihn dort sitzen sehen, wenn ich mal wieder spät dran war, weil ich mit einer Kundin noch ins Schwärmen über den großartigen ersten Roman von Noëlle Chatelet geraten war, der gerade in deutscher Übersetzung erschienen war, oder mit jemand anderem die düsteren Bilder in Léo Malets Schwarzer Trilogie bewundert hatte.

      Quinn war älter geworden, was nicht überraschend war. Doch Quintus Hartmann, Buchladenbesitzer, passionierter Buchkonsument und meine erste ganz große Liebe, sah immer noch ausgesprochen gut aus. Der braune Lockenschopf war einem modernen Kurzhaarschnitt mit graumelierten Schläfen gewichen. Er hatte seine athletische Figur nicht eingebüßt. Ob er immer noch Aikido trainierte? Er trug ein Twillhemd in Hellblau, eine Farbe, die, wie ich mich plötzlich erinnerte, ihm furchtbar gut stand, dazu eine dunkelbraune Canvashose und passende dunkle leichte Sommerschuhe. Er hatte sich kaum verändert. Dieser Stil hatte mir damals schon so gut gefallen. Was würde er nur denken, wenn er mich sähe?

      Ich war kurz davor, mich umzudrehen und die Verabredung platzen zu lassen, da blickte er hoch und sah mir direkt in die Augen. Einen Moment lang dachte ich, meine Knie würden nachgeben. Quinn hatte noch immer diesen eindringlichen Blick. Seine Augen waren dunkelbraun, am Rande der Iris wurden sie golden. Wenn wir uns geliebt hatten, hatten sie die Farbe von dunkler Schokolade angenommen. Zusammen mit seinem Lausbubengrinsen hatten sie ihn unwiderstehlich gemacht.

      Quinn erhob sich. Er lächelte, hatte einen suchenden Ausdruck im Gesicht und kam um den Tisch herum auf mich zu. Als er mich umarmte, hatte ich auf der Stelle gewaltige Orientierungsprobleme. Eine Flut von Erinnerungen stürzte auf mich ein. Die meisten davon waren nicht jugendfreier Natur. Parbleu! Was hatten wir für phantastischen Sex gehabt! Wie hatte ich den nur vergessen können?

      Quinn löste die Umarmung und betrachtete mich eine Armeslänge von sich gestreckt. »Catia, du siehst toll aus!«

      Ich glaubte ihm kein Wort. Drei Kinder und eine gescheiterte Ehe hatten deutliche Spuren hinterlassen. Nicht zu meinem Vorteil, wie ich meine Mutter in meinem Hinterkopf zischen hörte. Ich winkte ab. »Danke. Können wir uns setzen?«

      Quinn schaute überrascht und wartete, bis ich saß, bevor er selbst wieder Platz nahm und der Bedienung winkte. Als die an unseren Tisch trat, zögerte er kurz und blickte zu mir. »Das Gleiche wie früher?«

      Wie früher … Da hatten wir eimerweise Applejack Sour getrunken – Calvados, Zitronensaft, Zuckersirup und Sodawasser eisgekühlt –, wenn wir auf private Partys gegangen oder uns die Nacht in einem Club um die Ohren geschlagen hatten. Ich hatte diesen Drink seit fünfzehn Jahren nicht mehr in der Hand gehabt. Das machte mich traurig, denn ich hatte mir auch fünfzehn Jahre lang die Nächte nicht mehr so um die Ohren geschlagen. Ich nickte wortlos.

      Quinn bestellte zwei Applejacks und zeigte auf sein Buch. »Erinnerst du dich? Das hast du mir damals vorgelesen, nachdem wir zusammengezogen waren.«

      Richard Katz’ Von Hund zu Hund. Der Briefwechsel zwischen einem Boxerrüden, dessen Herrchen in Brasilien lebte, und einem Rauhhaardackel mit Frauchen in der Schweiz. Beide Hundebesitzer waren den üblichen Austausch von Nichtigkeiten leid und überließen die Korrespondenz ihren Hunden, die sich amüsant über ihre Menschen austauschten. Ein dicker Kloß in meinem Hals machte es mir unmöglich, etwas zu sagen, also nickte ich nur wieder stumm und schaute zur Bar. Wo blieb bloß mon vieux ami Jacques, wie wir den Cocktail lachend zu nennen pflegten?

      »Ich habe das Buch sehr oft gelesen, ich kann es fast auswendig. Du hast es bei mir vergessen, als du damals Hals über Kopf auszogst.« Wieder schaute Quinn mich an.

      Moment mal, hatte ich richtig gehört? Hatte er gerade behauptet, ich sei »Hals über Kopf ausgezogen«? Meine tracheale Blockade löste sich augenblicklich und machte Platz für ein wenig Galle auf ihrem Weg nach oben. So war es ja nun wahrlich nicht abgelaufen!

      »Quinn, du konntest es doch gar nicht erwarten, mich loszuwerden! Du konntest mich ja nicht mal mehr ansehen, und kein Wort hast du mehr zu mir gesagt. Ich bin wohl kaum ›Hals über Kopf ausgezogen‹! Ich hatte einen ganzen Tag lang durchgeheult, und als du am nächsten Tag und den beiden folgenden auch nicht mit mir sprachst …«

      Mir ging die Puste aus. Ich konnte mich auch nach all den Jahren deutlich an meine tiefe Enttäuschung und meine Verzweiflung erinnern. Was machte ich eigentlich hier? Was für eine idiotische Idee, mich mit Quinn zu treffen! Man konnte die Zeit nicht zurückdrehen, so ein Trip in die Vergangenheit verlief immer enttäuschend. Dieser, zugegeben, wirklich attraktive Mann hatte mich tief verletzt, und nun saß ich hier, um mir einen Nachschlag zu holen? Hatten denn die letzten neun Monate nicht an Demütigung gereicht? Herrje, mein ganzes Leben war eine Demütigung. Würde ich wirklich nie dazulernen? Der große, hässliche Jammerlappen schickte sich an, sich über meinem Gemüt auszubreiten. Es war wirklich höchste Zeit, mich von der Opferrolle zu befreien! Ich mobilisierte den Widerstand und funkelte Quinn böse an.

      Der sah aus, als hätte ich ihn geohrfeigt. Dann schüttelte er traurig den Kopf. »Lass uns nicht streiten, Catia, bitte! Ich hab mich damals wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert, aber glaub mir«, sein Blick drang bis in mein tiefstes Inneres, »ich wollte nie, dass du gehst.«

      Was sollte ich dazu sagen? Wir schwiegen. Das war kein guter Auftakt.

      Die Bedienung hatte uns die Speisekarte gereicht, und ich sah mir das Angebot an. Gebackener Camembert mit Preiselbeeren. Auch das hatte ich anderthalb Jahrzehnte nicht mehr genossen. Würde ich heute Abend aber auch nicht, das Zeug war reines Hüftgold! Salate beraubten mich beim Essen meines letzten Restes an Dekorum, der mit gebratener Hühnerbrust fiel also auch durch. Ich entschied mich für Penne all’arrabbiata und schickte ein Stoßgebet an Lukullus, er möge mich vor Tomatenflecken bewahren – der war zwar kein Gott, sondern nur Feldherr, aber er verstand eine Menge von üppigem Essen und war somit mein bester Ansprechpartner. Quinn nahm einen Burger mit Kartoffelecken und einer Extraportion Coleslaw.

      »Ich habe gesehen, dass du immer noch den Buchladen hast«, versuchte ich den Beginn eines neutralen

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