Schlacht um Sina. Matthias Falke

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Schlacht um Sina - Matthias Falke

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ihrer Lage besser zum Ausdruck bringen können. Taylor antwortete nicht. Obwohl sie mehr als vierzehn Stunden unterwegs gewesen waren, vom Abend bis in den fahlen sinesischen Vormittag hinein, fanden sie keinen Schlaf. Wie ausrangierte Puppen, die man achtlos fortgeworfen hatte und die mit verdrehten Gliedern in der Ecke lagen, lehnten sie aneinander, kauten, schwiegen und sahen vor sich hin. In regelmäßigen Abständen zog Jill die Nase hoch.

      Die Nacht reichte von drei bis etwas über acht Uhr. Dort herrschte Finsternis; eine Art von Finsternis, an die zu gewöhnen ihm bisher nicht gelungen war. Auf dem Kugelkompass erstreckte sie sich von vierzig bis hundertdreißig Grad. Ein riesiger Vorhang aus Dunkelheit und Nichts. Er achtete darauf, ihn im Rücken zu haben, wobei auch das die beklemmende Wirkung nicht linderte. Manchmal stahlen sich Bänke und feine Filamente vor und ragten seitlich ins Blickfeld, selbst wenn er dieses penibel auf zwölf Uhr ausgerichtet hatte. Was war unangenehmer: dem Grauen ins Gesicht zu sehen – oder eine Entität, über deren Qualität man bislang nichts Verlässliches herausgefunden hatte, in seinem Rücken zu wissen?

      Commodore Wiszewsky zog es vor, ihr den Rücken zuzuwenden. Das war eine Geste der Nichtachtung, die man naiv nennen konnte. Was ich nicht sehe, existiert auch nicht. Aber er verfügte über einen ausreichenden Vorrat sonstiger Sorgen, sodass wenigstens die undurchdringbare Materie seiner Aufmerksamkeit entzogen bleiben durfte.

      Die MARQUIS DE LAPLACE dümpelte in den Ausläufern der Dunkelwolke. Das lichtjahrweite Vorkommen der unbekannten und auf hartnäckige Weise unerklärlichen Substanz hatte keine scharf umrissenen Grenzen. Es begann und endete nicht abrupt, sondern verlief über Milliarden Kilometer. Hier bildete es ein Halo, das peu a peu alles Licht verschluckte, Energie absorbierte, ohne sie in anderer Form wieder abzugeben, wodurch sie dem Hauptsatz der Thermodynamik widersprach, und sogar Warpsignaturen verschlang. Die Dunkle Materie, die keine Masse aufwies, aber ein schwaches Äquivalent von Gravitation erzeugte, bildete sich in riesigen Kissen, Flocken, Streifen und Wolken entlang der Bruchstellen der Raumzeitgeometrie. Hier im Kleinen Korridor, wo die Lokale Gruppe in einem jahrmillionenlangen Prozess auseinanderdriftete wie ein Kontinent entlang eines großen Grabenbruchs, warf der überdehnte Raum unermessliche Mengen der rätselhaften Substanz aus. Ihr Volumen musste nach Millionen Kubiklichtjahren gemessen werden. Ihre Gravitationswirkung, die die Experten von der Planetarischen Abteilung mittlerweile exakt vermessen hatten, entsprach der Masse einiger Dutzend Milchstraßen. Die scheinbare Masse der Lokalen Gruppe, soweit sie aus diesem Gravitationseffekt resultierte, hatte sich durch die Entdeckung allein dieser Dunkelwolke mehr als verdoppelt. Dadurch hatte die galaktische Drift einer radikalen Neuberechnung zugeführt werden müssen. Und Tiefenscannings, die man mit dem Deepfield durchgeführt hatte, hatten ergeben, dass außerhalb der Lokalen Gruppe, im großen Korridor und in anderen Richtungen, weitere Wolken schwebten, deren Gravitationsäquivalent sich auf viele tausend Milchstraßen summierte.

      Wiszewsky war diese Substanz unsympathisch. Materie musste eine Masse haben, oder sie hatte überhaupt nicht zu sein. Der seltsame Zwischen- und Zwitterzustand der Dunklen Materie verstimmte ihn. Er forderte seinem Schulwissen eine Revision ab, zu der er sich nicht mehr bereitfand, auch wenn es nach irdischer Zeit schon über einhundert Jahre alt war. Stattdessen zog er es vor, der Dunkelwolke den Rücken zuzukehren. Er hatte die MARQUIS DE LAPLACE eben so weit in das wabernde Nichts einfliegen lassen, dass sie für einen außenstehenden Beobachter verborgen sein musste und dass auch die Emissionen, die der Betrieb des Schiffes unweigerlich mit sich brachte, von der Wolke absorbiert wurden. Der südliche Horizont, bezogen auf die Schiffsachse, war ganz von dem treibenden Schwarz bestimmt. Nur nach vorne, der Blickrichtung der Schnauze folgend, hatte man freie Sicht, die geringfügig verschleiert, aber immer noch eindrucksvoll genug war.

      Abends, wenn die administrativen Routinen ihn in die immer deprimierendere Freizeit entließen, pflegte der Commodore sich in den Ausguck zurückzuziehen, eine 360°-Panorama-Kugel, die sich zwei Decks über seiner privaten Suite befand. Der gravimetrische Sessel war arretiert und auf die Längsachse der MARQUIS DE LAPLACE ausgerichtet. Hier sitzend, konnte Wiszewsky sich entspannen. Zur Linken sah er, von grauen Schleiern etwas getrübt, die Milchstraße und die anderen Hauptgalaxien der Lokalen Gruppe. Zur Rechten wellten sich die orangeroten und schwefelfarbenen protostellaren Nebel der Eschata-Region in der Protogalaxie M42. Und geradeaus, über den Antennenwald des Schiffsbugs hinweg und dem leicht einwärts gekrümmten Verlauf des Kleinen Korridors folgend, konnte er sogar das überwältigende Galaxienfeld der Großen Mauer ausmachen. Fern, schwach leuchtend, ein Vorhang aus grobkörnigem, purpurfarbenem Licht. Entfernt vergleichbar dem Anblick der Milchstraße am Erdenhimmel, wenn auch tausendmal größer und zehntausendmal so weit entfernt. Denn jeder der rötlich im Wasserstoffspektrum irisierenden Lichtpunkte war eine eigene Milchstraße.

      Er kam hierher, um nachzudenken. Aber auch, um nicht nachdenken zu müssen. Es war eher ein ergebnisloses Grübeln und Sinnen, ein Brüten und Dahindämmern, dessen Gegenstand kaum zu formulieren und auszusprechen gewesen wäre. Der erschöpfte und illusionslose Zustand, dem er sich hier oben oft für ganze Nächte überließ, glich eher dem ziellosen und mahlenden Kreislauf der Schlaflosigkeit, der manischen Selbsttätigkeit der immergleichen Ängste, Befürchtungen und traumatischen Überlegungen, als einem bewussten und rationalen Nachdenken. Und dennoch suchte er den meditativen, manchmal allerdings auch albtraumhaften Zustand immer wieder auf. Denn wirklich zu bedenken, bei hellem Tageslicht besehen, gab es im Grunde wenig. Anfangs hatte er noch die Tage gezählt, seit die Crew der ENTHYMESIS unter Umständen verschollen war, die noch immer ungeklärt waren und denen etwas Mysteriöses anhaftete. Dann waren es Wochen gewesen, schließlich Monate. Er wusste nicht mehr, wie viel Zeit verstrichen war, seit der Explorer selbststeuernd ins Große Drohnendeck der MARQUIS DE LAPLACE eingeflogen war, von einer Sonde heimbeordert, von der Automatik geführt, mit menschenleerer Brücke. Seither fehlte von Norton und den anderen jede Spur. Das Geisterschiff, dessen Auftauchen in dieser Öde ein Affront gegen jede vernünftige Erwartbarkeit war, hatte sie in den Warpraum verschleppt. Über das Warum und Wohin hatten sich seit Monaten alle Spekulationen totgelaufen.

      Wiszewsky seufzte. Das Alleinsein war der einzige Zustand, in dem er die metaphysische Einsamkeit, in der er hier draußen lebte, ertragen konnte. Manchmal ließ er die Kugel mit klassischer Musik beschallen. Aber auch das schien ihm zunehmend unangemessen. Selbst die erhabensten Klänge eines Bach, eines Mozart, eines Anton Bruckner kamen ihm unpassend vor angesichts der Weite und Öde, in die er immer manischer hinausstarrte. Er kam sich dabei vor wie ein Teenager, der eine Filmdiva, eine Königin, eine Göttin mit peinlicher Pennälerlyrik bedrängte. Dann zog er die Stille und das Schweigen vor.

      Entgegen seiner früheren Gewohnheit, die ihm Svetlanas Nähe hatte unentbehrlich erscheinen lassen, fand er sich auch damit ab, auf ihre Anwesenheit und ihre körperliche Berührung zu verzichten, die er über Jahre hinweg kaum preisgegeben hatte. Ihre Unbekümmertheit, die ihn während des Betriebs aufgeheitert und erfrischt hatte, wurde ihm ungenießbar. Immer öfter ertappte er sich dabei, dass er ihr Geplapper und ihr pausenloses Herumgefummel an seinen Händen, seinen Ohren, seinem Haar enervierend fand. Und so zog er sich in den Ausguck zurück, eine winzige, an alte Planetarien erinnernde Kuppel aus polarisiertem Elastilglas, die kaum fünf Meter im Durchmesser hatte und wo er mit der unbegreiflichen Gleichgültigkeit der Schöpfung allein sein konnte.

      Eine Zeitlang hatte er sich mit Laertes, dem selbsternannten Chefideologen der MARQUIS DE LAPLACE, zu unregelmäßigen Zusammenkünften in den kleinen Bars und SkyLounges getroffen, deren es unzählige an Bord des riesigen Schiffes gab. Aber der alte Philosoph hatte sich sowohl als Ratgeber, wie auch als Tröster ungeeignet erwiesen. Er dachte in Maßstäben, in denen der individuelle Tod nicht der Rede wert und das Verschwinden der Menschheit eine Belanglosigkeit war. Die aktuellen politischen oder physikalischen Ereignisse trotzten ihm kaum ein Schulterzucken ab. Und so hatte der Commodore auch diese Gespräche, wo nicht eingestellt, doch ihren Rhythmus immer langwelliger zu gestalten gewusst. Das Alltagsleben auf der MARQUIS DE LAPLACE ging seinen Gang. Die weiteren Geschehnisse lagen im Dunkeln. Die machtpolitische und militärische Lage war ebenso verworren und undurchdringlich wie die ekelerregende und nichtvorhandene Wolke, die er gesehen hätte, wenn er seinen gravimetrischen Sessel um 180° herumgeschwenkt

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