Marx als Philosoph. Alfred Schmidt
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»Daß der materialistischen Geschichtsauffassung eine selbst historisch nicht nur wandelbare, vergängliche Rolle zukommt, wird freilich nur dann deutlich, wenn man ihre Generalthese auf die Problematik der politischen Ökonomie und ihrer Kritik zurückbezieht. In der Determination von Bewußtsein durch gesellschaftliches Sein spiegelt sich die Unbeherrschtheit des Wertgesetzes, das die Menschen zu seinen Agenten herabsetzt. Künftig dagegen – das pointiert die Kritische Theorie – soll, wie dies schon in Kants Hoffnung durchklingt, daß dereinst vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plan handeln, Bewußtsein über Sein gebieten. In diesem Sinn hebt der historische Materialismus sich auf.«35
Man sieht: Ein angemessenes Verständnis der Schmidtschen Beiträge zu einer philosophischen Interpretation des Marxschen Gesamtwerks setzt voraus, die jeweiligen Perspektiven als Knotenpunkte eines stets historisch situierten, offenen und letztlich unabgeschlossen bleibenden – praxisvermittelnden – Erkenntnisprozesses zu begreifen.
Folgen kritischen Philosophierens.
Eine kurze Reminiszenz
Vielleicht waren es genau diese Offenheit, die Bereitschaft zur Veränderung im eigenen Prozess der Erkenntnissuche und zugleich die Unbedingtheit des Willens zur Wahrheit, die Schmidts Wirkung auch auf kritische Zeitgenossen und auf die nachkommende aufbegehrende Generation in bewegten Zeiten ausmachten. Der von Helmut Reinicke verfasste Beitrag gibt darüber Aufschluss: Er bildet Atmosphäre und Diskussionslage der sechziger Jahre anschaulich ab, zeigt die Verknüpfung der von Schmidt in diesem Zeitraum angebotenen Seminare sowie der aus ihnen hervorgehenden Schriften – ob zu Feuerbach, Nietzsche oder eben zu Marx – mit der theoretischen Organisierung einer Neuen Linken und identifiziert etwa Rudi Dutschke als intensiver Leser des Schmidtschen Naturbuchs.
Reinickes Darstellung zufolge – und hier spricht ein unmittelbarer früher Weggefährte – »hat AS bereits 1962 die Stoßrichtung der weiteren theoretischen Arbeit der hauptsächlich philosophisch-soziologischen Linken zur Ökonomiekritik vorweggenommen«.36 Dabei ging es keineswegs nur um Anleitung zur angemessenen Lektüre. Die Zentralstellung des Marxschen Begriffs der Praxis, wie er sich in den Thesen über Feuerbach herauskristallisierte und bei Schmidt schon im Naturbuch selber als produktive Erkenntniskraft begriffen wurde, und ganz besonders das mit Feuerbach verfochtene Postulat einer »emanzipatorischen Sinnlichkeit«, das sich mit Marcuses Vorstellung einer »neuen Sensibilität« unschwer verbinden ließ, trafen Nervenpunkte der Auseinandersetzung einer Generation, die ihre Identitätssuche neu zu organisieren antrat und dabei den Bruch mit den vorangegangenen riskierte, auf der Suche nach Befreiung von Fremdzwängen und nach Chancen für die Entfaltung humaner Phantasie im – so Schmidt in einer späteren Arbeit über Marcuse – »Horizont einer libidinösen, Trieb und Vernunft versöhnenden Kultur«.37
Dass gerade in dieser Hinsicht marxistisches Gedankengut an seine Grenzen stieß und die Emanzipationsidee zu verfehlen Gefahr lief, hat Schmidt nie überspielt, im Gegenteil: »Soweit der traditionelle Marxismus«, vermerkt er in seiner Feuerbach-Schrift, »die naturale Basis des angestrebten Wandels gegenüber seiner technisch-ökonomischen unterschätzt, ja ignoriert, verfällt auch er der Kritik; er betont die Notwendigkeit, die Massen politisch aufzuklären, ohne sich um diejenige Sphäre zu kümmern, worin die Menschen ihre Welt und ihresgleichen am unmittelbarsten erfahren: in Ihrer Bedürfnis – und Triebstruktur.«38 – Sätze, die auch Herbert Marcuse so hätte formulieren können.
Tatsächlich kommt Schmidt ein Vierteljahrhundert später noch einmal auf dessen Intentionen zu sprechen, nicht ohne Bezüge zur Marx-Rezeption herzustellen:
»Die neue Sinnlichkeit vermittelte die Idee der Weltveränderung mit dem Drang des Individuums nach Glück und Freiheit. […] Indem Marcuse diese unmittelbar beobachtbare Praxis der Protestgruppen auf ihren philosophischen Begriff brachte, entwarf er – unter Rekurs auf die Pariser Manuskripte des jungen Marx – eine zeitgeschichtlich situierte Anthropologie, die den schulmäßig erstarrten Marxismus in einem wichtigen Punkt ergänzte.«39
Dieser Punkt betrifft die Tiefendimension der Idee der Emanzipation. Schmidt rekonstruiert sie im Sinne Marcuses so:
»Die Tiefe der Rebellion zeugt davon, in welchem Maße die bisherige Gesellschaft nicht nur die allgemeine Wahrnehmungswelt und die Funktionsweise der Sinnesorgane, sondern auch, biologisch gesprochen, den ›Stoffwechsel zwischen dem Organismus und seiner Umwelt‹ geprägt hatte. Der Bruch mit dem Bestehenden konnte nur von Menschen vollzogen werden, die ›physiologisch und psychologisch‹ fähig waren, die Dinge und sich selbst anders als bisher ›zu erfahren‹. Er schloß eine ›Revolution der Wahrnehmung‹ ein, die – den sozialen Wandel begleitend – eine neue ›Umwelt‹ hervorbrachte. Das (die Sinne wie die Kunst betreffende) ›Ästhetische‹ stellt sich Marcuse dar ›als mögliche Form einer freien Gesellschaft‹, jedoch unter geschichtlichen Umständen, deren Zwiespältigkeit ihm nur zu bewußt war.«40
Helmut Reinicke, der in Zusammenarbeit mit Schmidt für die Übersetzung von Marcuses Schrift »Versuch über Befreiung« sorgte, blickt in seinem Buch über Rudi Dutschke. Aufrecht gehen, 1968 und der libertäre Kommunismus auf die bewegten Zeiten, in denen das Ringen um das angemessene Verhältnis von Theorie und Praxis existentielle Form anzunehmen schien, so zurück:
»Der Flug war nur kurz. Dennoch hat die Revolte der sechziger Jahre in Deutschland – neben den Versuchen alternativer Lebensformen, der Frauenbewegung, der Wehrdienstverweigerung, den Solidaritätsmanifestationen für die Dritte Welt usw. – die Elemente künftiger Theorie und Praxis formuliert. Sie hat die Notwendigkeit einer proletarischen Revolution in Frage gestellt und ein Bedürfnis nach Befreiung in Aktionen umgesetzt. Sie hat Ökonomiekritik und Philosophie vereint. Schließlich hat sie gezeigt, dass die Welt nicht das ist, was der Fall ist.«41
Das »Materialistische« der Marxschen Theorie
Worin besteht nun eigentlich in philosophischer Perspektive das Besondere der Schmidtschen Beiträge zu Marx? Wodurch gewinnt Schmidts Marx-Auseinandersetzung ihr eigenes unverwechselbares Profil? Die Abkehr von weltanschaulicher Dogmatik sowjetmarxistischer Prägung und das Plädoyer, Marx in den Horizont des realen Humanismus zu rücken, teilt Schmidt mit weiteren Repräsentanten des »westlichen Marxismus«. Auch mit seinem Begreifen der Marxschen Kategorien als geschichtlich variierende Momente bestimmter Negation auf jeweils konkretem geschichtlichen Stand steht Schmidt nicht allein; ebenso wenig wie in der Hochschätzung der Bedeutung des Praxisbegriffs als Fundament der Erkenntnis und Kriterium der Wahrheit. Auch hier hat Schmidt genügend Vorläufer und Mitstreiter sowohl im eigenen Land als auch im weiteren Umfeld des westlichen Marxismus. Vieles spricht dafür, dass das Spezifische der Schmidtschen Marx-Interpretation in der Suchbewegung enthalten ist, die sich um die Frage zentriert, was mit dem »Materialistischen der Marxschen Theorie« eigentlich gemeint ist. Sie nämlich hat ihn dazu veranlasst, einen – wie er selbst bekundet – »besonders charakteristischen Schnitt durch das Marxsche Werk«42 vorzunehmen, ein Schnitt, mit dem es ihm gelang, die in diesem Werk enthaltene Dimension der »Wirklichkeit als Mosaik von Natur und Geschichte«43 als neu zu durchdenkende Ausgangsposition und besondere Problemkonstellation herauszupräparieren. Ein folgenschwerer Schnitt, dem man die mit ihm eingehandelten Schwierigkeiten nicht auf dem ersten Blick ansieht.
Denn eigentlich versucht Schmidt zunächst ja nur auszubuchstabieren, was Marx und Engels im Feuerbachkapitel der Deutschen Ideologie als Fundament geschichtsmaterialistischer Forschung in bekannter Formulierung so ausgemacht haben:
»Die