Marx als Philosoph. Alfred Schmidt
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Schmidt nimmt diese Bestimmung ungemein ernst und stellt sich der mit ihr einhergehenden Schwierigkeit, eigenbestimmt-naturale und geschichtlich-gesellschaftliche Praxis in ihrer Identität und Nichtidentität zu begreifen, d. h., die Ebenen der Verschränkung beider Sphären wahrzunehmen in ihren wechselseitigen Wirkungsmomenten, aber eben auch in ihren nicht aufeinander reduzierbaren, sich gegenseitig abstoßenden Elementen.
Die konsequente Fortsetzung dieses Marxschen Grundgedankens, in den das Thema der Subjektivität in der Perspektive Freudscher Erkenntnis bereits einbezogen ist, kann in Schmidts Sicht deshalb nur lauten:
»Naturales und Historisches sind im Menschen unentwirrbar durcheinander vermittelt – derart freilich, daß das Naturale innerhalb dieser Vermittlungen, in die es letztlich unauflösbar ist, sich stets aufs neue durchsetzt.«45
Dieser zentrale Gedanke der Schmidtschen Marx-Interpretation verlangt nach weiterer Veranschaulichung, und es ist spannend mitzuverfolgen, wie der an der Dialektik von Hegel und Marx nun wirklich intensiv geschulte Philosoph zögert, sein Erkenntnisinstrument in dieser Frage der Verhältnisbestimmung von Naturalem und Geschichtlichem wie gewohnt zur Geltung zu bringen, wie vorsichtig er es nun handhabt. Tatsächlich vermag andernorts ja auch dialektisches Denken in sich aufzulösen, zu tilgen, was sich dem Denken widersetzt, um damit in die Sackgasse einer verkürzten, einseitigen Sicht jenes Verhältnisses zu geraten, sei es in die Position eines Kulturismus, für den der Natur- und Leib-Standpunkt einfach nur Ballast ist, den es zu entsorgen gelte, sei es in die eines kruden Naturalismus, der sich in seinen Aussagen abgelöst darstellt von Gesellschaft, Kultur und Geschichte – Schmidt weiß die Akzente anders zu setzen und folgt auch hierin Marx: Eine Stelle aus dem Kapital heranziehend, macht er auf einen »Verstoß« Marxens gegenüber der »Dialektik von Allgemeinem und Besonderem« aufmerksam; Marx musste so vorgehen, interpretiert Schmidt, »weil es ihm widerstrebt, die Kategorie des Materialismus durchgängig mit denen der Dialektik zu identifizieren.«46 Der entscheidende Grund hierfür:
»Die völlig durchgeführte Dialektik von Besonderem und Allgemeinem brächte Natur: das Widerspenstige, nicht restlos auf ›Vermittlungen‹ zu Bringende, zum Verschwinden. Indem Marx die – in Nietzsches Sprache – nicht ›festgestellte‹, allgemeine Menschennatur von ihrer vorliegenden Gestalt unterscheidet, gewinnt sein materialistischer Vorbehalt eine politische Note. Die orthodox verfochtene These, alle Kategorien des Materialismus seien zugleich solche der Dialektik, lässt sich wohl – zumindest in dieser Verbindlichkeit – nicht halten. Hier wie anderswo im Marxschen Werk schlägt der Materialismus der Dialektik ein Schnippchen.«47
Das heißt nun aber:
»Marx vertritt letztinstanzlich den Primat der Natur gegenüber Geist und Gesellschaft. […] Bei aller geschichtlich wechselnden, von Marx keineswegs vernachlässigten Formbestimmtheit des Stoffwechsels setzt sich dessen Inhalt immer wieder durch. Der eiserne Zwang zur Produktion und Reproduktion menschlichen Lebens, der die Geschichte definiert, gemahnt kaum zufällig an die sturen Kreisläufe der Natur. Daß der historische Wandel von Subjekt und Objekt auf natürliche Grenze stößt, wird freilich von Marx niemals in apologetischer Absicht vorgetragen. Halten wir fest: Natur ist ein negatives, unaufhebbares Ontologicum. Stets aufs neue erweist sie sich als antidialektisch-statisches Element, das sich jedoch nur innerhalb und vermittels der historischen Dialektik als solches bestimmen läßt.«48
Dabei gilt es, auf das Erkenntnisproblem der Verhältnisbestimmung bezogen, zu beachten:
»Der Widerspruch, dass die Natur dasjenige ist, woran kein menschlicher Maßstab angelegt werden darf und was zugleich nur über unausrottbar anthropomorphe Kategorien angeeignet wird, muss, mit Hegel zu reden, ›ausgehalten‹ werden. […] Alle Erkenntnis übersetzt und interpretiert die Natur, ›vermenschlicht‹ sie. […] Die Natur, wie sie an sich sein mag, und die Natur als Gegenstand der Forschung sind nicht identisch.«49
Im Marxschen Verständnis ist es allein die Naturstoff-vermittelte Arbeit, die einen Zugang zu ihr ermöglicht. Das heißt: Der Weltentwurf des in seiner jeweiligen historischen Epoche sinnlich tätigen Menschen ist durch tätige Sinnlichkeit vermittelt.
»Wie Sinnlichkeit und Verstand, Anschauung und Begriff sich zueinander verhalten, läßt sich nicht ein für alle Mal fixieren, sondern bleibt dem konkreten Gang der Geschichte überlassen. Die gesellschaftliche Praxis, ein überindividuelles Subjekt, stiftet jeweils die Einheit der Erkenntnismomente und vermittelt ihren Übergang ineinander. Sie ist das Kriterium der Wahrheit. Erkenntnistheoretischer Realismus und Subjektivismus werden im Arbeitsprozeß miteinander versöhnt.«50
Eben deshalb kommt es erkenntnistheoretisch darauf an, »in den Begriff der bewusstseinsunabhängigen und objektiven Wirklichkeit die menschliche Praxis aufzunehmen, das, was wir die sinnliche Welt nennen.«51
Tatsächlich geht es Schmidt um das Fundament eines nicht reduktionistisch begrenzten und nicht essentialistisch vorentschiedenen Begriffs von Materialität, der belanglos würde, ließe er sich nicht vom – Natürlichkeit und Sozialität vermittelnden – Kriterium der Praxis inwendig bestimmen: ein Begriff der Materialität, der in unterschiedlichen Konstellationen, die Geschichte des Materialismus betreffend, unterschiedliche Konturen gewinnt und je besondere Erkenntnisfunktionen generiert: der bei den Vorsokratikern mit anderen Sinn gefüllt wird als bei Aristoteles, bei Hobbes mit einem anderen Stellenwert versehen wird als bei Spinoza und Goethe,52 in Positionen der Aufklärungsphilosophie einen anderen Bedeutungshorizont bezeichnet als bei den »Philosophen der Leiblichkeit« Schopenhauer, Feuerbach, Nietzsche oder Freud, in der Gegenwart bei Bloch andere Akzentuierungen erfährt als in der authentischen Kritischen Theorie Alfred Schmidts. Dessen Leistung aber ist es, sich darum bemüht zu haben, mit allen genannten Positionen im offenen Dialog zu bleiben und die in diesem Dialog gewonnenen Einsichten mit der Marx-Interpretation zu vermitteln. Eben daraus resultiert der Reichtum an Einsichten und die Breite und Tiefe neuer Assoziationen, die die Marx-Diskussion zu bereichern und – in bestimmten gesellschaftlich brisanten Fragen: hierfür steht die Idee des ökologischen Materialismus – auf ein neues, zumindest so bisher nicht bedachtes Fundament zu stellen vermögen.
Mit den bisher dargestellten Überlegungen ist das Erkenntnisproblem von der Objekt-Seite her in den Blick genommen; noch nicht zureichend erschlossen erscheint dagegen die Ebene der Qualität und Eigendynamik subjektiver Prozesse, die für die Formulierung einer tragfähigen und brauchbaren materialistischen Erkenntnistheorie von ebenso ausschlaggebender Bedeutung ist. Den Zusammenhang beider Erkenntnisperspektiven hat Schmidt bereits in seinem Naturbuch in kritisch-diagnostischer Hinsicht so auf den Begriff gebracht:
»Es gehört wesentlich zu der als organisierter Herrschaft fortschreitenden Zivilisation, daß die zu bloßem Material menschlicher Zwecke herabgewürdigte Natur dadurch sich an den Menschen rächt, daß diese ihre Herrschaft nur mit stets sich mehrender Unterdrückung ihrer eigenen Natur erkaufen können.«53
Aufschlussreich erscheint der Bezug auf Freud in den nun unmittelbar folgenden Sätzen, verrät er doch, wie Schmidt sich in der Frage nach dem Subjekt neu zu orientieren sucht:
»Die Entzweiung von Natur und Mensch in der Arbeit spiegelt in der Unversöhnbarkeit von Lust- und Realitätsprinzip sich wider. Wobei jedoch die Einsicht, ›daß jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruht‹, Freud trotz aller psychologisch begründet Skepsis gegenüber dem Sozialismus in letzter Instanz sowenig wie Marx dazu verhält, der Resignation das Feld zu überlassen. Die geheime Utopie der Psychoanalyse, wie sie etwa in der Schrift ›Die Zukunft einer Illusion‹ sich andeutet, ist im Grunde die Marxsche von ›innen gesehen‹: Es wird entscheidend, ob und inwieweit es gelingt, die Last der den Menschen auferlegten Triebopfer zu verringern, sie mit den notwendig verbleibenden zu versöhnen und dafür zu entschädigen.«54
Gewiss,