Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950. Heinz Scholz

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Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950 - Heinz Scholz

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Sprünge machen.

      Das Beste beim Schissen war der große Umzug durchs Dorf am Sonnabend Nachmittag, mit Blaskapelle und Spielmannzug. Hinter der Kerntruppe, den marschierenden und mit Gewehren bewaffneten Uniformierten des Kriegervereins, zog alles mögliche Volk hinterher. Manche Frauen oder Kinder wollten sich mit altherkömmlichen Kleidungs- oder Uniformstücken ein undefinierbares historisches Aussehen geben. Einmal trug mein Bruder Helmut Vaters Soldatenhelm aus dem Weltkrieg, eine sogenannte Pickelhaube, unter deren Spitze wir wichtigtuerisch den Einschuß eines Schrapnellgeschosses nachweisen konnten. Und im Inneren des abgenommenen Helmes zeigten wir ebenso stolz auf das durch die Verwundung vom Blut dunkel gefärbte Leder, was wiederum bei den Staunenden weitere Fragen auslöste. So bot sich gleich die Gelegenheit, die uns geläufige Kampfszene von Vaters Kopfverwundung im Jahre 1915, zwischen Dnjestr und Pruth in der Nähe von Chernowitz und Kolomea, erzählen zu können … Doch viel Zeit zum Erzählen gab es wiederum nicht, der geblasene Militärmarsch war schon verstummt, der ganze Zug war am Kriegerdenkmal angelangt: „Abteilung halt!“ „Links um … “, und dann begann das übliche Zeremoniell mit kurzer Ansprache zu Ehren der im Krieg gefallenen Helden des Dorfes; danach ertönten die Kommandos zum Ehrensalut, worauf sechs herausgetretene Kriegsveteranen ihre Gewehre durchluden und drei Salven in die Luft schossen. Ohne viel Aufhebens ging es weiter durch das Vorderdorf, wo der König aus dem vergangenen Jahr abgeholt, nein, sagen wir besser freigekämpft werden mußte. Und das ging so vor sich: Der ganze Zug hielt – wie in diesem Fall – bei Jäckels an, sofort schwärmten angreifende Schützen aus, die den Hof von Jenke Karl umzingelten und nach heftigem Kampf erstürmten, in das Wohnhaus eindrangen und den gefundenen oder gefangenen König mit großem Siegesgeschrei herausführten. Und es wurde natürlich geschossen und geballert – mit Platzpatronen, wie wir wussten, die aber, aus der Nähe abgefeuert, auch empfindliche Verletzungen hervorrufen konnten. Deshalb hielten wir uns trotz großer Begeisterung in respektvollem Abstand zum Kampfgeschehen. Bevor der Zug sich neu formierte, gab es für die Kämpfer einen tüchtigen Zug aus der Flasche und auch einen kräftigen Bissen zu essen. Welcher Sinn hinter jenem militärischen Kampfspiel der „Kameraden vom Kriegerverein“ steckte, weiß ich nicht zu sagen. Als Jungen haben wir auch nicht danach gefragt. Wir fanden das Ganze interessant und spannend.

      Auch das jährliche Erntedankfest war gekrönt von einem Umzug durch das ganze Dorf und endete dann, wenn ich mich recht erinnere, im Gasthof Mai im Ortsteil Stamnitzdorf. Festwagen mit schön dekorierten Früchten aus Feld und Garten fuhren im Mittelpunkt des Zuges, gefolgt oder begleitet von fröhlichen Menschen, die sich auf unterschiedliche Weise aufgeputzt und maskiert hatten. Es gibt noch ein Foto, auf dem mein Vater mit dem Nachbar und uns Kindern in einer Gruppe abgebildet ist. Vater, als Frau verkleidet, schiebt einen uralten Kinderwagen, darin ein unartig plärrendes Kind, und um sich herum eine große Schar von lustig gekleideten Mädchen und Buben. Unser Vater spielte sich gern in eine solche komische und lustige Rolle hinein. Im Erntedankfest mussten zunehmend die nazistischen Ideen der „Blut und Boden Politik“ sichtbar gemacht werden. Abzeichen, Fahnen und Uniformen der NS-Organisationen färbten mehr und mehr solche dörflichen Veranstaltungen.

      Die ausgesprochen christliche Sinngebung zum Fest von Christi Himmelfahrt blieb erhalten, nur die Teilnahme an dem Gottesdienst im Freien ließ nach. Es war üblich, des Mittags über die Harte bis zur Goldenen Aussicht zu wandern und dort dem Waldgottesdienst beizuwohnen. Bei schönem Himmelfahrtswetter versammelten sich auf der Waldwiese ein paar Hundert Leute aus den umliegenden Dörfern. Nach dem gemeinsamen Gottesdienst wurden Spiele veranstaltet, vor allem für Kinder. – Wir zwei Jungen genossen an diesem Tag die gemeinsame Wanderung mit Mutter und Vater. So gab es unter den großen Fichten interessante Ameisenhaufen zu bestaunen, im nahen Sandsteinbruch die Herstellung von Mühlsteinen zu erklären oder den Verlauf des geheimnisvollen unterirdischen Ganges zu untersuchen. Meist gingen wir auch weiter bis zum „Simonishaus“ nahe dem Neuländer Kloster, wo wir durch die an diesem Tag geöffnete Tür die figürlich gestaltete Szene der Abendmahlgesellschaft mit Jesus und seinen Jüngern an langem Tisch betrachten konnten.

      Wenn uns damals jemand gesagt hätte, dass 10 Jahre später, im März 1945 hier oben auf der Harte und im Klosterbereich die Russen ihre Schützengräben und Artilleriestellungen ausbauen und in Richtung Neuland/​Kunzendorf die Deutschen unter Feuer nehmen würden, dann wäre dieser Jemand für verrückt erklärt worden. Vielleicht hätte man ihn sogar wegen Volksverhetzung oder Zweifel am Sieg der „Nationalsozialistischen Revolution“ ins KZ gesperrt.

      Dann gab es im Frühjahr noch ein christliches Fest, das „Neuländer Bergfest“. Unterhalb des schon besagten Klosters, auf einer Bergwiese beim Gasthof Flegel, versammelte sich Jung und Alt aus der ganzen Umgebung. Ursprünglich war man hingepilgert, ich nehme an, um die Bergpredigt zu hören. Jetzt beließ man es bei einem katholischen Gottesdienst in der nahen Klosterkirche, und anschließend vergnügte man sich auf dem Rummelplatz der Bergfestwiese.

      Wie weit das Vergnügen bei uns Kindern ging, hing auch hier von den von Eltern und Verwandten gestifteten Pfennigbeträgen ab. Mein Bruder und ich, wir meldeten uns ein–zweimal schon am Vortag bei dem Betreiber eines Kettenkarussells an. Er merkte uns vor zum Karussellschieben, oben auf dem Bretterboden, wo wir zu sechst in die Achsstreben greifen und in starkem Drücken und Laufen rundum das Karussell zum Drehen und natürlich auf entsprechende Touren und nach dem Klingeln wieder zum Stehen bringen mussten. Als Lohn bekamen wir zwei oder drei Freifahrten!

      Das größte und bedeutendste Volksfest war das Löwenberger „Blücherfest“ in der letzten Augustwoche, draußen auf dem Festplatz im Buchholz. Die Leute kamen von weit her; und der Rummelplatz, sogar mit Rutschbahn, Berg- und Talbahn, Autoskooter, Riesenrad und Gruselkabinett ausgestattet, war für uns Kinder der größte und attraktivste seiner Art. Er wirkte auf uns wie ein grandioses Prater-Gastspiel aus ferner Welt, das für kurze Zeit in unsere kleine Provinzstadt gekommen war. Dieses ungewöhnlich umfangreiche, vielfältige und hochkarätige Angebot, das lustvolle Treiben und laute Vergnügen so vieler Menschen zog uns mächtig an. Als Auftakt zu dem großen Jubiläumsfest wurde in der Stadt ein großartiger historischer Festumzug veranstaltet. Da zogen die preußischen Soldaten der Blücherschen Armee (wie nach der siegreichen Schlacht an Katzbach und Bober im August 1813) mit ihren russischen Verbündeten an uns vorüber. Natürlich fehlten nicht der legendäre Marschall Blücher auf seinem Schimmel, sein Stabschef Gneisenau, die Lützowschen Jäger und sonstige Helden und historischen Größen aus den Befreiungskriegen. Und da ich mich in preußischer Kriegsgeschichte einigermaßen gut auskannte, vermochte ich die uniformierten vorbeiziehenden Gruppen sowie die voranreitenden Offiziere und Einzelpersonen ziemlich sicher zu identifizieren und daher stolz meine Erklärungen zum besten zu geben. So war für mich der große Festumzug ebenso wichtig wie der Rummelplatz. Hier, auf der obersten Stufe am Straßenrand des Marktes, brauchte ich nichts zu bezahlen für das „schöne“ Geschichtserlebnis; oben auf dem Rummelplatz musste ich meine Groschen dreimal in der Tasche rumdrehen. Na ja, aber das Achterbahnfahren und die große Rutschbahn, das wollten wir uns schon leisten.

      Nun bin ich durch das Blücherfest etwas abgekommen von meiner Dorfbeschreibung, doch unsere Beziehung zur nahegelegenen Kreisstadt Löwenberg ist auch Teil unseres dörflichen Lebens. Nicht nur auf dortige Behörden und Einkaufsstätten, auf Kirche und Friedhof waren die Dorfbewohner angewiesen, da richtete sich unser Interesse auch auf das städtische kulturelle Leben, auf die Geschichte und Geographie unserer heimatlichen Kreisstadt. Was in Löwenberg passierte, nur 3 km entfernt, war für mich genauso wichtig wie das Geschehen in unserem Dorf.

      In der Stadt erfuhr ich meine ersten Kinoerlebnisse, dort besuchten wir die Jahrmärkte, dorthin fuhren oder liefen wir über den Berg, wenn der Bober Hochwasser hatte, da nahmen wir an den Aufmärschen des Jungvolks und am Ersten Mai teil, dort kannten wir uns gut aus auf dem Hospitalberg, in der Löwenberger Schweiz, auf dem Popelberg (wo wir den Segelfliegern zusahen), auf dem Luftenberg und auf der Kuhwiese, wo wir den Wanderzirkus erlebten oder das erstemal aus der Nähe ein herbeigeschafftes aufgestelltes altes metallenes Junkersflugzeug besichtigen durften. Und nicht zu vergessen: In der Löwenberger „Badeanstalt“ habe ich mich mit 11 Jahren beim Schwimmmeister Hoffmann angemeldet,

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