Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950. Heinz Scholz
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Blond und blauäugig
Das war auch die Zeit, wo an uns ältere Schüler in der Schule eine broschierte Beilage zu unserem „Realienbuch“ ausgegeben wurde. Vielleicht sollte ich zuerst erklären: Das „Realienbuch“ war in unserer Volksschule ein universelles Lehrbuch, in dem gefächert Grundwissen in Geschichte, Erdkunde, Naturkunde und Naturlehre zusammengefasst war. Dazu kam jetzt eine etwa 20-seitige Ergänzungsbeilage über „Rassenkunde“. Ich kann nicht genau sagen, ob der Titel so lautete, jedoch der Inhalt entsprach diesem nazistischen Thema. Mit Porträt-Abbildungen und Merkmalsbeschreibungen waren verschiedene Menschenrassen vorgestellt, natürlich mit einer qualitativen Bewertung. Ich erinnere mich, dass u. a. von der Nordischen Rasse, von der Westischen Rasse, von der Romanischen Rasse, von der Ostischen Rasse, von der Dinarischen Rasse und vor allem auch von der Jüdischen Rasse die Rede war.
Ich fand das irgendwie lustig. Ich weiß auch nicht mehr genau, ob unser Lehrer diesen Exkurs sehr ernst genommen hat. Ich glaube eher nicht, denn wir haben die ganze Thematik so nebenbei behandelt. Aber immerhin blieb bei mir haften: Die besten Menschen sind die der Nordischen Rasse! Negativ bewertet wurde die Ostische Rasse, auf die slawischen Völker gemünzt, und als schlechteste Menschen galten die Juden. Mit hässlich gestalteten Abbildungen sollte das auch äußerlich kenntlich gemacht werden. Nun ja, die Juden, die waren so im Gerede, da muss wohl was dran sein, aber …? So unter uns Jungen hatten wir damit zu tun, uns selber einzuordnen: Zu welcher Rasse gehörten wir? Selbstverständlich zur Nordischen Rasse. Wir stammen doch von den Germanen ab! Aber wir betrachteten uns gegenseitig so halb im Spaß, ob wir nun auch äußerlich den Merkmalen der Nordischen Rasse entsprächen. Mein Bruder und ich, so meinten die anderen zu unserer Beruhigung, wir ähnelten der Nordischen Rasse. Helmuts schmaler Kopf und hohe Stirn wurde hervorgehoben, und blond waren wir ja beide. Meine blauen Augen verbürgten auch für Nordische Herkunft, nur mein Kopf sei etwas breiter, das könnte auf ostischen oder dinarischen Einschlag zurückzuführen sein. Dann prüften wir die Nasen und den Körperbau. Und zu den Mädchen schauten wir natürlich hin: Wer ist groß, schlank, blond … und schön? Dass die Hoffmann Ursel die schönsten langen blonden Zöpfe von allen hatte, das gefiel mir sehr … .
Gotha, im Oktober 2000
Liebe Franziska,
wer soll das verstehen oder wie soll man das erklären, dass ich erst jetzt, nach einem Abstand von 10 Jahren, von neuem ansetze und fortführen will, was ich Ende 1990 begonnen, dann aber abgebrochen habe.
Nicht dass ich dieses Schreibprojekt vergessen oder hätte fallen lassen wollen. Nein, einfach aufgehört, weil andere mich stärker beanspruchende, fesselnde Geschehnisse jener Zeit mich abgelenkt haben und in den Vordergrund getreten sind. In der Brisanz jener aktuellen Ereignisse von 1990, der Wiedervereinigung Deutschlands, fragte ich mich auch erneut nach dem Sinn solcher weit zurückreichenden autobiographischen Aufzeichnungen. Oder: Wer bin ich schon, dass ich mir anmaße, von meiner Person zu schreiben? Dann wiederum redete ich mich damit heraus, dass es bis zur endgültigen Niederschrift einer größeren zeitlichen Distanz bedürfe.
Und jetzt, liebe Franziska, bist Du inzwischen zu einer Frau von 24 Jahren herangewachsen. Wenn ich weiß, wie man in solcher Lebenszeit durch Lernen, Suchen, Träume und Erfahrungen vor allem mit sich selbst genug zu tun hat und nicht unbedingt den Wurzeln der Familie oder Zeitgeschichte nachgehen möchte, dann frage ich mich wieder: Wirst Du das jetzt unbedingt lesen wollen?
Nun hast Du aber, als wir vor kurzem über meine damals begonnenen Aufzeichnungen sprachen, mich von neuem ermuntert, indem Du spontan sagtest: „Schreib weiter, das ist wichtig für uns!“
Ich habe darüber nachgedacht und mich entschlossen weiterzumachen. Für wen mein Bericht „wichtig“ oder sagen wir interessant sein kann, das wollen wir dabei offen lassen. Über den Sinn oder Zweck solcher Aufzeichnungen gibt es unterschiedliche Auffassungen. Manche meinen, es sei wohl eine Illusion, wenn man glaubt oder hofft, die Menschen könnten aus der Geschichte Schlussfolgerungen ziehen für die Gestaltung einer humaneren künftigen Welt. Aber vielleicht kann ein Stück konkret erzählter Familiengeschichte doch mit dazu beitragen, darüber nachzudenken, was da vorgegangen ist im 20. Jahrhundert in Deutschland und wie kleine Leute, hineingeboren in Krieg und zwei Diktaturen, ihr Leben verbracht haben – recht und schlecht, gut oder nicht gut.
Ich will, liebe Franziska, im Folgenden – im Gegensatz zum ersten Teil – auf an Dich oder den Leser direkt gerichtete zwischengeschobene Anreden verzichten. Ich werde nur berichten und erzählen, aber natürlich nicht wertfrei, denn ich möchte auch durchblicken lassen, wie ich das Erlebte später überdacht oder verstanden habe. So will ich meinen Zeitzeugenbericht von nun an ohne Unterbrechung fortsetzen, in der Hoffnung, dass es einen lesbaren Sinn macht.
Vom Leben in Haus, Familie und Dorf
Häusler Oskar Scholz, Hartelangenvorwerk, Nr. 81, das war unsere Anschrift. Sie stand auf Karten oder Briefen, die der Poststellenleiter und Briefträger Wolf in unser Haus brachte. Die Bezeichnung „Häusler“ sagte aus, dass der damit genannte Besitzer nur ein kleines Haus besaß, mit ein wenig Garten und Feld. So war unser Haus weder stattlich noch groß, aber räumlich in drei Bereiche gegliedert: Rechts lag der Wohnbereich, in der Mitte Stall und Futtervorbereitung, zur Linken schloß sich die Scheune an. Wir gingen durch die Haustür in den Hausflur. Von dort konnte man hinten, die Kellertreppe hinunter, in den Gewölbekeller gelangen, der in den hinter dem Haus aufsteigenden Berg hineingebaut worden war und in dem Kartoffeln und Rüben lagerten, unsere Gurken- und Sauerkrauttöpfe standen und wo sich auf Regalen die Einkochgläser aneinander reihten. Vom Hausflur links gesehen, hinter einer einfachen Holztür, befand sich der Stall mit Kuh und Ziegen. Man konnte sie hören, zuweilen auch riechen. Rechts durch eine stabilere Tür gelangte man in die Wohnstube. Hier spielte sich insgesamt der Alltag ab. Da war links ein hoher Kachelofen, der mit einer Herdplatte über dem Feuerloch und einer „Röhre“ zum Kochen und Warmhalten diente, zugleich aber auch den Wohnraum heizte. Wir saßen im Winter gern auf der Ofenbank, mit dem Rücken an die warmen Kacheln gelehnt. Mutter, die in unseren frühen Kindheitstagen gern sang, saß dann strickend am Ofen und animierte uns zum Mitsingen, hauptsächlich in der Dämmerstunde, wenn die Hauptarbeit des Tages getan war. Wir Jungen sangen auch gern, und mein Bruder Helmut hatte eine ausgesprochen „schöne Stimme“, von meiner Mutter „geerbt“, wie wir alle meinten. Manchmal im Winter, wenn es draußen schneite, saßen wir zwei auch im Fenster, auf dem überbreiten Fensterbrett. Und das war bei uns möglich, da die Mauern gewiß 40 bis 50 cm dick waren. – Innen waren die Wände der Wohnstube mit Holz vertäfelt, auch der Fußboden mit Holz gedielt. Rechts in der Ecke stand der Esstisch, von zwei festen Eckbänken im Winkel umgeben. Darauf saßen wir Jungen beim Essen, mittags mit der Mutter, abends, wenn die Pfanne mit Bratkartoffeln auf dem Tisch stand, zu viert. In einer anderen Ecke stand unser altes Sofa, daneben Mutters Nähmaschine, und schließlich auf einem extra dafür gefertigten „Tischel“ das Radio. Da gab es natürlich noch den Küchenschrank, zu dem uns Jungen der ganztägige Zugang verwehrt war, weil man sich gefälligst am Morgen, zu Mittag und am Abend richtig satt zu essen hatte; alle Naschereien zwischendurch waren strengstens untersagt. Und Mutter kam uns stets auf die Spur, wenn wir insgeheim versucht hatten eine Scheibe Brot fein säuberlich und unauffällig abzuschneiden. Oder wenn feinste Körnchen von Zucker herabgefallen waren. Was das Essen zu den Mahlzeiten betraf, da galt grundsätzlich: Was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Ich habe manchmal vor dem halbleeren Teller oder dem Rest einer dickpampig kalt gewordenen Mehlsuppe ewig gesessen, bis mir der Teller weggezogen wurde mit dem Bescheid: „Wenn nicht jetzt, dann isst du es heute abend!“
Ich hatte mir immer vorgenommen: Das wirst du später mal von deinen eigenen Kindern nicht verlangen. Übrigens