Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950. Heinz Scholz
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Kennzeichnend für seine Grundhaltung, so glaube ich, war sein beliebtes Aufsatzthema: „Was mir mein Vater aus seiner Kriegszeit erzählte“. Meinen Aufsatz unter dieser Überschrift hatte er in einem Elternabend vorgelesen. Wahrscheinlich haben ihm meine kriegsgeschichtlichen Kenntnisse zugesagt.
Seine Beziehung zu mir war normal. Nun ja, als Klassenerster genoss ich sicher sein Vertrauen, auch sein Wohlwollen, aber dass ich auch Jungvolkführer im Dorf war, hat er nicht sonderlich honoriert. Ich glaube, er schätzte mein auffälliges Interesse für Geschichte, meine Belesenheit in Erdkunde und meine lebendige Neugier auf alles, was so um uns herum und anderswo passierte.
Einmal gab es einen Bruch in meiner Schüler-Lehrer-Beziehung. Davon will ich erzählen: Wie schon gesagt, wir waren ja ein Dorf ohne Kirche und ohne Pfarrer, und auch der Friedhof fehlte! Wenn jemand starb, musste er demnach auf dem Friedhof in der 3 km entfernten Kreisstadt beigesetzt werden. Die Leiche, zwei–drei Tage zu Hause gehalten, wurde am Beerdigungstag meist im Hausflur aufgebahrt, dann im Beisein der ganzen Trauergesellschaft per Leichenwagen in die Stadt gefahren und auf dem dortigen Friedhof während einer christlichen Trauerfeier beigesetzt. Vor der Abfahrt des von Pferden gezogenen Leichenwagens spielte vor dem Haus eine dörfliche Trauerkapelle, und ein Begräbnischor sang Trauerlieder. Zu diesem Begräbnischor gehörte ich drei Jahre lang, mit anderen Jungen und Mädchen der Dorfschule, etwa 12 oder14 insgesamt. Unser Lehrer leitete diesen Chor, er übte vorher mit uns, meist nach Unterrichtsende in seinem Wohnzimmer, wo er mit Hilfe des Klaviers uns zu führen gedachte, den „Ton zu halten“. Es waren immer die gleichen Lieder, aber sie mussten wieder in Erinnerung und vor allem wieder auf musikalisches Niveau gebracht werden. Das war langweilig für mich, obwohl ich, zur „zweiten Stimme“ eingeteilt, überprüfende Übungen am ehesten nötig hatte. Immerhin, als zweite Stimme erhielt ich 35 Pfennig für eine Beerdigung, die Sänger der ersten Stimme bekamen nur 25. Jedenfalls sangen wir fünf oder sechs Lieder: zwei am Haus des Toten, vielleicht „So nimm denn meine Hände … “; unterwegs, im Leichenzug zur Stadt, sangen wir dann im Wechsel mit den Bläsern noch weitere zwei, drei oder vier Lieder, strophenweise und wiederholend, am Grab auch noch eins, vielleicht „Jesus meine Zuversicht … “
So, und nun kann ich endlich erklären, warum ich in Schwierigkeiten geriet zu meinem Lehrer, hier als Chorleiter, der mit uns an der Spitze des Trauerzuges schritt: Nach Ende der Beisetzung auf dem städtischen Friedhof entließ uns unser Otto nicht ohne uns aufzufordern, „unverzüglich und anständig“ in unser Dorf zurückzukehren. Aber so unverzüglich wollten wir das nicht. Da gab es in der Stadt Gelegenheiten, dies und jenes zu erkunden; oder es bestand sogar Anlass, eine interessante Kleinigkeit käuflich zu erwerben, vorausgesetzt, man hatte das nötige Kleingeld in der Tasche. Damit waren die Bauernkinder besser ausgestattet als unsereiner.
Aber nun zur Sache: Diesmal schauten wir bei „Waffen-Walter“ ins Schaufenster. Und siehe da, dort lagen neben Bolzen und Luftgewehrmunition kleine Knaller mit Docht – für drei Pfennig das Stück! – Ja, das müsste doch zu bestreiten sein. Irgendwer hatte auch einen Groschen bei sich. Ich weiß nicht, wie wir zu Streichhölzern kamen. Zu guter Letzt hatten wir drei Knaller gekauft. Daher zogen wir nun ziemlich „unverzüglich“ aus der Stadt hinaus, und gleich hinter dem Sägewerk Mährlein, in der S-Kurve sahen wir rechter Hand ein Stoppelfeld, auf dem wir Mäuselöcher vermuteten. Dem war auch so. Was folgte war klar: Die Knaller hinein ins Mäuseloch, einer muss die Dochte anzünden, und dann nichts wie weg. Es knallte beträchtlich. Es blieb jedoch ein mittelmäßiges Gaudi. In unserem Eifer hatten wir nicht weiter nach links und rechts gesehen und wohl nur so beiläufig mitbekommen, dass da ein Bauer seitwärts auf dem Feld mit den Pferden pflügte.
Am nächsten Tag in der Schule, erst am späten Vormittag, nachdem der Ehrentraut-Bauer, besagter pflügender Bauer vom Vortag, an der Klassentür geklopft und uns schießende Begräbnissänger beim Lehrer angeschmiert hatte, begann unser Otto mit der Verhandlung dieses unerhörten Vorfalls: „Ungehörig so ein Verhalten – grundsätzlich, … und schwerwiegender noch, weil unmittelbar nach einer Trauerfeier, vor allem … pietätlos … und sogar mit dem Kreuz Jesu! … das habe den Bauern, Herrn Ehrentraut, zu Recht erzürnt.“ Hier muss ich zu besserem Verständnis hinzufügen, dass außer uns Begräbnissängern stets noch einer der kräftigen Jungen in schwarzem Umhang und mit hochgehaltenem Christuskreuz vor dem Sarg stehen und auch dem Trauerzug vorangehen musste. Dieser Kreuzträger also war mit uns; und er hatte sich – da ja nicht mehr im „Dienst“ – genauso wie wir munter und flink auf dem Acker bewegt und war samt seinem zwei Meter langen schwarz lackierten Kreuz vor dem Feuerknall in Deckung gerannt. Jetzt war für uns klar: Das Christuskreuz bei der Sprengung von Mäuselöchern muss wohl den Ausschlag gegeben haben. Wenngleich wir, weil wir von einer gewissen nachbarlichen Uneinigkeit mit unserem Lehrer wussten, wiederum meinten, der „Ehrentraut-Pauer“ wolle mit seiner Anzeige unserem Otto nur eins auswischen. Mit diesem Gedankengefüge im Kopf, fand ich es überaus ungerecht, dass wir 4 oder 5 Delinquenten nun nach vorn kommen und jeder drei Stockschläge entgegennehmen mussten. Nach meinem Gerechtigkeitsempfinden erschien mir diese Bestrafung vollkommen unberechtigt! Waren wir wirklich Übeltäter? Hatten wir jemandem geschadet oder weh getan? Das war doch ein harmloses Spiel! Hat er nur so hart gestraft, um dem lästigen Ehrentraut-Bauer Genüge zu tun? – Soll er doch beim nächsten Begräbnis allein singen!
Es war für mich eine bittere Enttäuschung, und sie machte mich in der Folge trotzig. Ich verhielt mich im Unterricht in den folgenden Tagen völlig passiv, trotzte also sichtlich. Und da der Lehrer es sofort merkte, wollte er mich niederzwingen anstatt mich austrotzen zu lassen. Wir hatten Erdkunde. Und im Atlas wie an der großen Landkarte war ich ziemlich gut bewandert. Manchmal zitierte er mich nach vorn, damit ich den anderen an der Karte zeige, was man wissen müsse. Diesmal rief er mich wieder vor, doch ich blieb vor der Landkarte stehen und sagte mürrisch: „Ich weiß es nicht!“ Da wies er auf die Deutschlandkarte daneben: „Zeig uns die deutsche Hauptstadt!“ Ich blieb bewegungslos und stumm stehen. „So“, sagte er, „wer auf der Karte Berlin nicht finden kann, der kann auch nicht Klassenerster bleiben. Pack deine Sachen und setz dich auf den vierten Platz!“ Damit war ich degradiert. Die anderen vor mir rückten auf und saßen nun auf den ersten Plätzen. Das ging mir an die Nieren. In den Tagen danach muss ich wohl klein beigegeben haben, oder auch der Lehrer war nachsichtiger geworden. Jedenfalls wurde ich dann aus irgendeinem Anlass wieder vorgesetzt auf den ersten Platz und blieb auch „Klassenerster“ bis zum Ende meiner Schulzeit …
Der Lehrer und seine Schüler in der Evangelischen Volksschule Hartelangenvorwerk 1938.
Unser Schulhaus war ziemlich neu, 1913/1914 erst gebaut. Man sagte: das schönste Dorfschulhaus weit und breit, mit stattlicher Lehrerwohnung, aber für die Schüler/innen nur mit einer Plumpsklo-Anlage im Hinterhof. Das Schulgebäude lag am Dorfrand, nahe des Eisenbahngleises, über das in unmittelbarer Nähe eine Holzbrücke hinauf zum „Schießplatz“ führte, auf dem wir im Turnunterricht genügend Platz für Ballspiele fanden. Kleiner und nur eingeschränkt benutzbar war der umzäunte Spiel- und Turnplatz unmittelbar neben der Schule. Hier tummelten wir uns während der Pausen, und hier „hielt“ unser Lehrer auch meist den Turnunterricht „ab“. Das heißt, er ließ unter seiner Leitung größere Schüler/innen als eingesetzte Riegenführer oder Vorturner agieren. Dafür gab es eine Weitsprunggrube, einen Barren und ein Reck. Unser Otto war unsportlich oder seines Alters wegen nicht mehr in der Lage, mitzuturnen bzw. vorzuturnen. Er stand daneben im Anzug mit Krawatte und Spazierstock und gab lediglich theoretische Anweisungen, die wir für überflüssig hielten, denn wir mussten sowieso allein zusehen, was wir zustande brachten. Eigentlich lag alles in unserer Hand, zumindest das praktische Training und die Ausführung der Übungen. Und die Vorturner, die Geschicktesten aus unseren Reihen, die konnten trotz ihrer laienhaften Führungsrolle zumindest mit unserem sportlichen Eifer