Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950. Heinz Scholz

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Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950 - Heinz Scholz

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lief ja auf vollen Touren und war darauf gerichtet, dass die Leute sich sagen und glauben sollten: Vielleicht ist doch dieses andauernde Parteiendurcheinander vor 1933, dieser nach der „guten alten Kaiserzeit“ gemachte Versuch einer Demokratie, wo alles kreuz und quer redet und schließlich nur Arbeitslosigkeit übrig bleibt, am besten durch eine „starke Führung“ aus der Welt zu schaffen? Vielleicht ist der Hitler doch unser Mann? – Derartige Gedanken griffen, soweit ich das mitbekommen hatte, um sich, und ich weiß, mit der Zeit nisteten sie sich so ungefähr auch in meinem Kinderkopf ein. Oder man hörte die Alten so landläufig sagen: Das Leben geht so und so weiter. Wir müssen nun zusehen, wie wir unter den jetzigen Verhältnissen zurecht kommen. Oder: „Su schlimm wird ’s schun ni wärn“. Und da erinnere ich mich an den Wahlspruch meiner herzensguten Tante: „Wer mit den Wölfen lebt, der muss auch mit den Wölfen heulen!“, den sie auch zu späteren DDR-Zeiten von sich gegeben hat. Dann sehr zu meinem Ärger!

      Damals war ich natürlich als 10-jähriger Junge in diesem Gewirr von Meinungen ziemlich unsicher. Was verstand ich schon von Politik und Demokratie oder gar von Zivilcourage? Aber ich war auf meine Weise mit all dem beschäftigt, was so Tag für Tag passierte, und es interessierte mich wirklich, was da vorging im Dorf, in der Kreisstadt und in unserer Hauptstadt Berlin; und ich war recht neugierig darauf, was Vater, die Nachbarn und die Leute dazu sagten.

      Was ich im März 1933 keineswegs mitbekommen habe, war die Durchsetzung des „Ermächtigungsgesetzes“ im Reichstag. Ich fürchte, die meisten Leute in unserem Dorf haben von dieser horrenden Tatsache kaum Notiz genommen oder waren sich der Tragweite dieses Gesetzes nicht bewusst. Jedenfalls kann ich mich – wie schon gesagt – nicht erinnern, dass diese politischen Vorgänge im Frühjahr – Sommer 1933 die Leute in unserem Dorfe sehr erregt hätten. Zumal: Der eigentliche Sachverhalt dieses Ermächtigungsgesetzes wurde ja von den Nazizeitungen nach außen hin, also für den gemeinen Mann, beschönigt und propagandistisch so gerechtfertigt, als handle es sich hier um eine vernünftige Zustimmung einer Volksvertretung und als einzige Möglichkeit, durch „kräftiges Zugreifen“ einer starken Regierung die Not des Volkes aufzuheben und alle Menschen in ein besseres Leben zu führen. Ich habe heute noch Hitlers Parole im Ohr: „Gebt mir vier Jahre Zeit!“ Nun ja, und wir Unwissenden dachten dann wohl: Bitt’ schön, soll er’s uns doch beweisen … .

      Im Laufe der Jahre 1934/​1935 ergab sich eine breitere Zustimmung zur Hitler-Regierung. Vielleicht hielten sich auch kritische Stimmen vorsichtiger zurück. Teils kam schon naive Begeisterung für Hitler auf, der nun „über das Radio“ öfter zündende Reden an das Volk hielt. Er wandte sich an die „Volksgenossen“, an das „ganze deutsche Volk“ und rührte an die nationale und soziale Seele der kleinen Leute. Und wer zu ihnen „gut reden“ konnte, der war sowieso gut angesehen.

      Meine Eltern besaßen in jenen Jahren noch kein Radio. Die Nachbarn von nebenan luden uns ein: „Heute obend sprricht Hittler! Ierr kennt kummen, wenn ierr wullt.“ Wir gingen, und ich durfte mit. So hörte man zu und konnte sich einer gewissen Faszination nicht erwehren. Selbst ich als Zehnjähriger glaubte, viel zu verstehen von dem, was dieser Hitler sagte. Es beeindruckte mich auch, wie er sprach: wie er die Stimme energisch anhob, wie er mahnend zur „nationalen Erhebung“ aufforderte, wie er den „Novemberverbrechern“ drohte, wie er schrie oder wiederum geschickt besänftigte und auf unerklärliche Weise zu überzeugen vermochte. Die Erwachsenen in der Runde nickten öfter mit dem Kopf. Man war sich zumindest einig: „Ein großer Redner“ – und war nicht weit davon entfernt zu sagen: „Ein großer Mann.“

      Eine derartige Breitenwirkung war natürlich jetzt, in den Dreißiger Jahren, erstmals möglich mit Hilfe des Radios. Der Rundfunk hatte seinen Siegeszug angetreten, und das Hitler-Regime nutzte das neue Medium Rundfunk für seine propagandistischen Kampagnen geschickt, rücksichtslos und erfolgreich aus. Rücksichtslos insofern, weil sich Hitlers Propaganda-Ministerium nach der Machtübernahme sofort der Rundfunkanstalten bemächtigt hatte. Sogleich sorgte man auch dafür, dass Rundfunkgeräte „für das Volk“ hergestellt wurden. Wenig später, aber noch in den Jahren vor dem Krieg, konnte sich fast jeder wenigstens einen „Volksempfänger“ leisten und mittels einer aufwendigen, sichtbaren Außenantenne die „große Politik“ und alles, was ihr dienen sollte, ins eigene kleine Haus hereinholen.

      1936 konnte unser Vater, wenn auch keinen neuen Volksempfänger, so doch einen gebrauchten „Radioapparat“ auf Abzahlung vom Radio-Händler kaufen. Wir hörten nun vor allem den „Reichssender Breslau“ und den „Deutschlandsender“. Und alles, was in unserer Stube aus dem Radio herauskam, war eigentlich gut und schön und niemals gegen den Nationalsozialismus gerichtet. Im Gegenteil: Jeder stolz verkündete Sieg der deutschen Autorennfahrer, ob durch Stuck, Caracciola oder Rosemeier, ob auf Mercedes oder Auto-Union, jeder deutsche Sieg bei internationalen Sportwettkämpfen, jede übertragene Eröffnung einer neuen Autobahnstrecke oder die Übertragung des Breslauer Sängerfestes oder ein abendfüllendes Militärkonzert, nicht zu vergessen die beliebten Unterhaltungskonzerte unter der Leitung von Karl Woitschach und Otto Dobrindt, all solche sportlichen oder kulturellen Leistungen wurden propagandistisch zu einem Gewinn für die Hitlerherrschaft umgemünzt. Und die allabendlich gesprochenen Nachrichten des „Reichsrundfunks“ waren natürlich die Nachrichten, die das Propagandaministerium unter Goebbels konzipiert und vorgegeben hatte. – Nirgends mehr eine Widerrede! Keine Gegendarstellung! Keine politischen Kontroversen! Jeder hörte nur das, was er hören sollte.

      Natürlich waren auch die Zeitungen und Zeitschriften längst in das gleichgerichtete Fahrwasser der Nazipropaganda gezogen worden. Wir konnten lesen von den großen Leistungen der Hitlerregierung, vom „wohlbringenden Arbeitsbeschaffungsplan des Führers“, vom „Aufblühen der Wirtschaft“, vom „stolzen Gedeihen einer nationalsozialistischen Kunst und Kultur“, von der „gewachsenen Wehrhaftigkeit unserer deutschen Soldaten“ und dgl. mehr.

      Derartiges stand nun auch im „Löwenberger Anzeiger“, einem einst bürgerlich-liberalen Blatt, das Vater nach dem Verbot der sozialdemokratischen „Volksstimme“ abonniert hatte und bei uns im Hinterdorf von Katke Marie ausgetragen wurde. Dieses Kreisblatt war ausgerichtet nach dem von der NSDAP herausgegebenen überregionalen „Hirschberger Beobachter“, der wiederum der nazistischen Führungs-Zeitung folgte, dem „Völkischen Beobachter“ aus der Berliner Propagandazentrale.

      Die Zeitungen, die wir Dorfbewohner in die Hand bekamen, waren also „gleichgeschaltet“. Mit der Zeit glaubten immer mehr Leute das oder an das, was in der Zeitung zu lesen stand und was das Radio verkündete. Sicherlich wird es im Dorf auch politisch erfahrene oder gebildetere Leute gegeben haben, die sich der gefährlichen Folgen dieser einseitigen Beeinflussung bewusst waren, aber sich öffentlich schon nicht mehr kritisch zu äußern wagten. So bildete sich – wenn ich das richtig gesehen habe – in ein – zwei Jahren unter vielen Leuten im Dorf die Meinung heraus, es ginge doch jetzt etwas vorwärts, fast alle hätten nun Arbeit, verdienten auch ein wenig mehr als früher, es gäbe keinen Parteienstreit und man fühle sich im allgemeinen sicherer.

      Die aktiven Hitleranhänger rühmten diese Erfolge und traten immer selbstbewusster an die Öffentlichkeit, und an den staatlich verordneten Feiertagen hängten immer mehr Leute eine neue Hakenkreuzfahne zum Fenster hinaus. In der Kreisstadt, am Markt und in den Straßen, staunte ich über die vielen Fahnen. Man glaubte sehen zu können: Da hat sich allerhand verändert, „so viele sind jetzt schon für Hitler!“

      Auch unser Lehrer, in unserer Dorfschule, trug dann irgendwann das runde Hakenkreuzabzeichen auf seinem Rockaufschlag. Er war der Hitlerpartei beigetreten. Wir Kinder haben das einfach so hingenommen. Nur mein Vater hat da eine abfällige Bemerkung gemacht, obwohl mir inzwischen schien, dass er dem Hitler auch nicht mehr ganz so abgeneigt war wie vielleicht 1932.

      In der Schule

      Ehe ich von der Schule und von meinen Schulerfahrungen berichte, will ich von einer Begebenheit erzählen, die sich in enger Verbindung zur Schule zugetragen hat:

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