Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950. Heinz Scholz
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Wobei ich angelangt bin bei der bereits erwähnten Absicht, den Stock noch einmal aus dem Schrank hervorzuholen. Dort stand der Rohrstock (aus 8 – 10 mm Bambusrohr) in einem vertikal angelegten Fach neben den zusammengerollten Anschauungstafeln, es sei denn, er war wegen wiederholten Gebrauchs auf dem Katheder liegen geblieben. Wir fürchteten natürlich den Rohrstock, denn die Schmerzen, die körperlichen, die er verursachte, trieben vielen von uns die Tränen in die Augen.
Ich habe als Schulkind den Stock des Lehrers akzeptiert, wenn er nach meinem Dafürhalten zu Recht eingesetzt worden ist. Ich glaube, alle fanden es normal, wenn in der Schule mit dem Stock „erzogen“ wurde. Auch die meisten Eltern, denke ich, waren damit einverstanden. Vater höre ich sagen: „Es wird schun netig sein und konn nie schoden.“
Unser Otto hatte ein bestimmtes Strafsystem. Je nach Schwere des Vergehens wurden 1, 2, 3 oder im Extremfall (was seltener vorkam) noch mehr Stockschläge „verabreicht“: den Mädchen grundsätzlich auf die ausgestreckte innere Hand, uns Jungen im Winter auf die gleiche Weise, jedoch im Sommerhalbjahr bei gebücktem Oberkörper auf den dünnbehosten Hintern. Unser Lehrer holte tüchtig aus, und wenn er bei Schlägen auf die Hand die Fingerpartie traf, tat es besonders heftig und anhaltend weh. Einige weinten vor Schmerz. Manch einer heulte auf wie ein getroffenes Tier. Nur wenige hielten sich stark, verzogen lediglich das Gesicht, rieben sich die getroffene Hand und gingen aufrecht auf ihren Platz. Wer die Hand aus Angstreflex vor dem zu erwarteten Schlag spontan zurückriss, musste – bei Wiederholung – mit Erhöhung des Strafmaßes rechnen.
Wurde nur sachlich gestraft und zugeschlagen, blieb es beim physischen Schmerz; bei ironischen oder gar zynischen Kommentaren des Lehrers tat es auch noch innerlich weh. – Und nicht zu vergessen: Das alles fand vor der Öffentlichkeit des Klassenzimmers statt! Da gab es neben Mitgefühl und Solidarität auch Schadenfreude!
Einmal ging es ganz dramatisch zu. Einer aus dem vierten Schuljahr, der „Schimpanse“ – so nannte ihn auch der Lehrer mit Spitznamen – wollte sich partout nicht bücken. Immer wieder schnellte er mit dem Oberkörper jäh hoch, wenn der Lehrer zum Schlag auf das Gesäß ausholte. Schließlich drückte ihn der Lehrer mit fester Gewalt nach unten und klemmte den Kopf des Schülers zwischen seine Beine, um ungehindert auf den Hintern schlagen zu können. Da hatte wohl der „Schimpanse“ versucht, dem Lehrer ins Bein zu beißen, was dann ein furchtbar unkontrolliertes Dreinschlagen mit dem Stock zur Folge hatte. Der Lehrer war außer sich, und wir saßen wie erstarrt. Solch eine Exekution hatte es noch nie gegeben. Ich glaube zu wissen, dass danach im Dorf die Rede davon war, die Eltern hätten sich beschwert. Wenn wirklich, dann sicher ohne Erfolg … .
Ja, so war das damals mit dem Rohrstock in der Schule. Er war für uns Kinder eine ständige imaginäre Drohung, ein Mittel, das uns mit Angst disziplinierte. Ich will mit all dem nicht so sehr meinen Lehrer belasten. Die Erziehung mit dem Stock entsprach den althergebrachten Erziehungsprinzipien und Gewohnheiten in den meisten preußischen Provinzdörfern und den gesellschaftlichen und staatlichen Bedingungen, in die der Lehrer – wie wir alle – eingebunden war.
Über unseren Lehrer herrschte im Dorf die allgemeine Meinung: Der macht seine Sache gut. Und Vater höre ich heute noch sagen: „Er bringt euch was bei.“ Wir Schulkinder fanden ihn mal so, mal so. Wir akzeptierten ihn, ohne dass wir ihm besonders zugetan gewesen wären oder ihn gar geliebt hätten. Es gab ja auch kaum Vergleichsmöglichkeiten. Wenn unser Lehrer krank war, fürchteten wir die Vertretung durch den Lehrer aus dem Nachbardorf. Der trat – dick und massig – durch die Tür unseres Klassenzimmers und versuchte mit kolossalem und strengem Gehabe zu beweisen, dass er besser sei als der unsrige. Er muss wohl auch unsere verhohlene Abneigung gespürt haben. Wir waren dann froh, wenn unser Otto endlich gesund war und den Unterricht wieder aufnahm.
Nur einmal gab es so etwas wie ein Aufleuchten. Für ein paar Wochen wurde uns vorübergehend ein ganz junger Lehrer zugeteilt. Ich weiß nicht mehr, aus welchen Gründen. Jedenfalls stand es für mich fest: Das war einer! Der lachte auch froh, stand locker vor uns, war freundlich und strahlte rund herum jugendliche Frische aus. – Das ganze Gegenteil von unserem Otto, den wir mit seinen 54/55 Jahren schon als alten Mann ansahen und der durch Jahrzehnte anstrengender Volksschultätigkeit schon recht gequält wirkte. Man weiß nicht, ob jener junge Lehrer sein schönes, frisches Erscheinungsbild hat auf Dauer aufrecht erhalten können. Fest steht: Das Jungsein ist für angehende Lehrer ein unverdientes wertvolles Pfand, das man bei Kindern zu beiderseitiger Freude einbringen kann, das man aber auch verspielen kann, wenn man trotz Jugend nicht reif genug ist für die Arbeit mit Kindern. Kurz und gut: Darüber habe ich natürlich damals nicht nachgedacht. Unser Otto war eben so, wie er war, und damit basta.
Eins hat mir und anderen Mitschülern nicht gefallen: der Spucknapf im Klassenzimmer. Dieser eigens dem Lehrer vorbehaltene Spucknapf, ein schüsselförmiger, weiß emaillierter Napf, stand neben dem dreibeinigen Waschschüsselständer in der Nische hinter dem Lehrmittelschrank. Wenn der Lehrer ihn benutzte und – wie er den Gebrauch vor aller Augen praktizierte, das verursachte mir eine Pein, die sich selbst über jahrelange Gewohnheit nicht mindern ließ. Dann sehe ich noch, wie eines der größeren Mädchen gemäß ihren Aufgaben als Ordnungsdienst den Spucknapf, weit von sich haltend, mit verzogenem, abgewandtem Gesicht, hinaustrug um diesen draußen zu entleeren und zu reinigen.
Und da war noch etwas, was mich gestört hat: Unser Lehrer nannte bzw. rief uns mit unseren Spitznamen. Er war aber nicht konsequent; es traf nicht alle, einige ließ er aus. Andererseits förderte er mit ironischen Kommentaren oder gar Vorschlägen die Erfindung und den Gebrauch von Spitznamen, manchmal unschöner auf das Äußere hinzielender wie z. B. „Muppe“ oder „Schimpanse“. Mich nannte er, wie schon gesagt, in den unteren Schuljahren „Bahner“. Das war seine Erfindung. Später war ich der „große Kiebitz“, dieweil mein jüngerer Bruder Helmut „kleiner Kiebitz“ genannt wurde. Spitznamen können nett sein und freundschaftlich wirken, manche aber können verletzen oder auf Dauer schmerzen. Kaum einer kann sich dagegen wehren. – Ich bin für das Anreden und Rufen mit Vornamen. Wie gesagt: Was ein Lehrer sich gegenüber seinen Zöglingen leisten kann, woran er sich halten darf oder halten muss, das erlaubt ihm die Gesellschaft, oder der Staat schreibt es ihm vor. Zwar lässt sich manches, wenn einer Manns genug ist, auf ein vernünftiges menschliches Maß bringen. Und ich denke, dass sich diesbezüglich auch unser Lehrer ernsthaft seine Gedanken gemacht hat. Er muss wohl, denn er war ja trotz einiger Unarten kein schlechter Lehrer. Ob ihn seine gesellschaftliche Stellung im Dorf und seine Macht auch selbstherrlich werden ließ – ich glaub’ nicht. Immerhin gehörte er zu den wenigen Honoratioren unseres Dorfes, mit ihm der Bürgermeister Robert Förster und der Gutsbesitzer Richard Dunkel, mit denen er sich einmal in der Woche im Dorfgasthaus bei „Hübners“ zum Skat traf. Da wird man sich neben dem Spielgeschäft noch mehr zu sagen gehabt haben: vielleicht das Neueste aus der Gemeinde, aus der Schule, aus Wald und Feld, aus der Politik und gewiss auch aus der nahen Kreisstadt, die der Gutsbesitzer – als einziger Autobesitzer im Dorf – mit seinem „Opel P4“ schnell erreichen konnte. Nein,