Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950. Heinz Scholz

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Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950 - Heinz Scholz

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das war schon die ganze Prominenz im Dorfe.

      Einen Pfarrer im Dorf gab’s nicht, da wir auch keine Kirche hatten. Bis auf wenige Katholiken gehörten alle Bewohner des Dorfes zur evangelischen Kirchgemeinde unserer 3 km entfernten Kreisstadt Löwenberg. Schade, denke ich heute. Ob ein Pfarrer mit Kirche im Dorf bei uns hätte etwas mehr ausrichten können? Auch bei uns Kindern? Gerade in der Hitlerzeit!? So blieb es für uns, für mich, bei dem pflichtgemäßen Konfirmandenunterricht durch Pastor Frenzel oder bei einem langweiligen Vikar in der Kreisstadt. Diese Männer in ihrer schwarzen Kleidung waren weit weg von mir. Sie gaben mir nichts. Sie forderten ein Lernpensum, und alles blieb für mich im luftleeren Raum. Keine dieser Autoritäten, weder Lehrer, Pfarrer noch sonst wer, ist nahe an mich herangekommen. Kinder brauchen Nähe und Zutrauen. Dies zu spüren hätte auch mir sicherlich gut getan.

      Was den Bürgermeister betrifft, so sei noch Folgendes gesagt: Er wohnte vier Häuser weiter von uns in seinem kleinen, aber schmucken, mit schönen Blumen garnierten Haus, kinderlos, mit seiner gütigen Frau, er kriegsverletzt und gehbehindert, mit Sachs-Motorrad und bescheidener Kohlenhandlung nebenbei. Uns Jungen war er halb zugetan. Wir durften, wenn wir nicht über die Stränge schlugen, hinter seiner Gartenlaube neben hohen Stauden und Büschen unsere Spielecke einrichten, auch uns mal in seiner Hängematte wiegen. Und als wir schon „größer“ waren, lieh er uns sein Luftgewehr, mit dem wir mittels Bolzen auf eine aufgehängte Scheibe am Scheunentor schießen durften. Er zeigte auf diese Weise Verständnis für uns Jungen. Aber wir merkten, dass er uns irgendwie auch erziehen wollte. So stand er ab und zu frühmorgens vor seiner Haustür, wenn wir an ihm vorbei, ordentlich grüßend, zur Schule gingen, und prüfte uns mit gezieltem Blick. „Deine Schuhe sind wieder nicht richtig geputzt!“ mahnte er streng. Einmal hat er mich zurückgeschickt. Ich bin verschämt heim und hab’ schnell die Schuhbürste aus dem Kasten geholt … . Hier muss ich einflechten: Schuhkontrollen dieser Art waren nur im Winterhalbjahr möglich; im Sommer gingen wir in den frühen Dreißiger Jahren noch barfuß zur Schule oder in Holzpantoffeln.

      Unter den Honoratioren, im Kreise seiner Skatbrüder, war unser Otto vielleicht der Gebildetste, wenn man Kenntnisse und Erfahrungen in der Ökonomie absetzt. Andererseits war er wahrscheinlich der Ärmste unter ihnen. So an die 330,—Mark monatlicher Gehaltsüberweisung glaube ich gelesen zu haben, als ich irgendwann für ihn Geld von der Stadtsparkasse holen musste. Seine drei Kinder – die gescheite Tochter studierte, der jüngste Sohn quälte sich auf dem Gymnasium, der erwachsene Älteste war irgendwo – mussten versorgt oder unterstützt werden. Da blieb wohl nicht viel Geld übrig. Der Garten vor und neben dem Schulhaus, den teilweise wir Schüler bearbeiten mussten, brachte Zusätzliches für die Küche der Lehrerfamilie. Die schönen roten Erdbeeren stachen uns Kindern in die Augen. Vor seinen Bienen, die zu etwa 20 Völkern in gestaffelter Reihe auf dem Hang oberhalb des Gemüsegartens ihren festen Stand hatten, mussten wir bei aggressiver Flugzeit, wenn sie „schwärmten“, manchmal Reißaus nehmen. Wer gestochen wurde, durfte sich sofort von der „Frau Lehrer“ behandeln lassen. Es kam durchaus vor, im Sommer, dass die „Frau Lehrer“ plötzlich ins Klassenzimmer hereinplatzte und halblaut aber dringlich dem Manne zurief: „Die Bienen schwärmen!“ Das freute uns, denn darauf folgte stets eine willkommene Unterbrechung des Unterrichts. Der Lehrer musste sogleich hinaus, sehen, wohin sich der Schwarm bewegte, wo er sich niederließ, wie man ihn wieder einfangen könne. Zeigte sich Ungewöhnliches, holte er uns heraus, damit wir draußen beobachten und miterleben konnten, was da an Besonderem passierte. Mit der Zeit kannten wir uns in der Welt der Bienen ganz gut aus. Wenn unser Lehrer sonntags Honig geschleudert hatte, durften wir montags vom Resthonig kosten, der noch an Waben oder Gerätschaften haftete. So bezog er uns ein in seine Bienen- und Gartenwirtschaft, um uns praktisch zu unterweisen, vor allem aber, um uns gleichzeitig als Helfer zu seinem Nutzen zu gebrauchen.

      Das alles war für uns Kinder wie für die Erwachsenen im Dorf selbstverständlich. Das durfte der Lehrer! Und warum auch nicht. So begütert war er nicht; und man sagte auch, manche Bauern trügen ihm in der Dunkelheit Geschlachtetes in die Wohnung. Aus Dankbarkeit – oder aus Berechnung? – Wie auch immer, für meine Eltern kam so was auf Grund eigenen Mangels gar nicht in Frage, und ich brauchte das nicht.

      Unser Lehrer Otto L. – ich sehe ihn vor mir – er fuhr kein Auto, keine Pferdekutsche wie die besser gestellten Bauern, auch kein Fahrrad wie wir Dreizehnjährigen – er lief zu Fuß! Überall hin, auch wenn es sein musste, in die nah gelegene Kreisstadt, immer mit dem Stock in der Hand, hustend und prustend und eilig drauflos. Zu beliebigen Besorgungen schickte er gelegentlich den einen oder anderen älteren Schüler. Ich erinnere mich, dass ich für ihn auf die Sparkasse im Rathaus gehen und einmal auch einen neuen Rohrstock in der Papierhandlung Hubrig kaufen musste. Ich weiß noch: Der Verkäufer hatte mir den Stock grinsend vor’s Gesicht gehalten und mich gefragt: „Ist das der Richtige?“

      Ich glaube, in den Anfangsjahren der Naziherrschaft vermied unser Otto in die Stadt zu gehen. Als er dann die braune Uniform trug, musste er wohl öfter hin, als ihm recht war. – Später, selber als Lehrer im „Staatsdienst“ und ebenso Zwängen ausgesetzt, habe ich mich manchmal rückblickend, meinen kindlichen Eindrücken von einst folgend, nach der politischen Position und Haltung unseres Lehrers Otto L. gefragt. Von seinen Erzählungen im Unterricht damals konnten wir natürlich so manches über seine Person erfahren. Aus Westpreußen stammend, ich glaube von Dirschau, war er nach Studium und Teilnahme am 1. Weltkrieg nach Schlesien gekommen und hier als Dorfschullehrer eingesetzt worden. Leutnant und Zugführer, vor allem aber Träger des „Eisernen Kreuz’ I. Klasse“, und dann und wann Berichte von harten Frontkämpfen – das kannten wir zur Genüge. Er trug sein EK I mit Stolz am Schwarzen Rock wie auch an seiner braunen Uniformbrust, das war nicht zu übersehen. Er konnte auch flammende Reden halten – bei Schulfeiern oder öffentlich im „Gerichtskretscham“. Seine kämpferische Begeisterung verspürten wir, wenn er uns patriotische Gedichte vortrug, die wir dann auch lernen sollten oder mussten, wie „Die Fahne der Einundsechziger“ oder „Der Todesritt von Mars-la-Tour“. Dann auch Gedichte der „neuen Bewegung“ von Heinrich Annacker. – Ich würde meinen, wie auch mein Vater sagte: Unser Lehrer war ein „Deutschnationaler“. Doch das änderte sich wohl im Laufe der ersten Nazijahre.

      Anfangs, vielleicht bis 1934, begannen wir täglich den Unterricht mit einem Morgengebet und mit der ersten Strophe eines Kirchenliedes. Bald wurde das fallengelassen. Anstelle des christlichen Rituals trat ein neues, ein politisches. Zunächst bestand es darin, dass zu Beginn der Woche ein in einem Wechselrahmen an der Wand lesbarer „Wandspruch der Woche“ gemeinsam gelesen und danach entsprechend interpretiert und besprochen wurde. Zum Beispiel: „Es ist nicht nötig, daß ich lebe, wohl aber daß ich tätig bin.“ (Friedrich der Große) Also jede Woche ein neuer Spruch, als Autor immer öfter: Adolf Hitler! Eines Tages wurden wir Zeuge, wie man am Eingang zum Schulgrundstück ein Fundament mit Halterung und Fahnenstange montierte. Gar bald wussten wir wozu. Am Anfang der Woche fand nun vor jener Fahnenstange ein „Fahnenappell“ statt. Einer von uns Schülern musste den Wochenspruch laut vorlesen, danach sangen wir gemeinsam ein „politisches Lied“, meistens „Auf hebt unsre Fahnen, in den frischen Morgenwind, lasst sie wehn und mahnen, … “ Dann folgte das Kommando: „Heißt Flagge!“ Und einer musste die Hakenkreuz-Fahne hochziehen. Wir fanden das nicht besonders interessant, zumal das Wetter nicht immer mitspielte. Zeitweise oder im Winter fiel der Appell auch aus.

      Eine Steigerung dieses politischen Auftaktes zu Beginn der Woche ergab sich, wenn wir Jungen wie auch die Mädchen zu diesem Appell, zum Beispiel in der so genannten Uniformwoche, am Montag in Hitlerjugend-Uniform erscheinen mussten. Auch unser Otto trat dann in brauner Parteiuniform vor uns. Aber ich meine, dass er sich bei dieser neuen Zeremonie zu Wochenbeginn nicht besonders ins Zeug legte. Er überließ das Ganze eher uns Jungvolk-Funktionären, ließ es abrollen, und korrigierte lediglich, wenn etwas erlahmte. Ich weiß nicht, ob unser Lehrer auf Dauer ein richtiger Nazi geworden ist. Wenn ich daran denke, mit welcher Inbrunst er an einer eigens für dieses Thema hergestellten Wandkarte uns „die Schmach von Versailles“ erklärte, dann stimmte er hier natürlich mit dem Hitler-Programm überein. Seine Parteizugehörigkeit, seine Uniform trug er meines Erachtens mit Zurückhaltung.

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