Das Bild der Zeit. Ruprecht Günther

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Das Bild der Zeit - Ruprecht Günther

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      »Aber ich …« Karl-Heinz versuchte kraftlos, den Nebel vor seinen Augen zu verscheuchen. »Ich will gar nicht …« Plötzlich kam er sich vor wie ein Junge, der zu Gast bei einem Freund ist und sieht, dass dessen Mutter eine Suppe gekocht hat, die ihm nicht bekommt.

      Die dunkelhäutige Frau streichelte ihre Locken und flüsterte: »Für zwei Liebende scheint eine Woche ein ganzes Leben. Für einen zu Tode Verurteilten ist sie wie ein Sturz in den Abgrund.« Sie lachte heiser. »Aber keine Angst, es ist alles nur ein Spiel … Ihr müsst bloß noch unterschreiben!«

      Sie nahm einen Zug aus ihrer Zigarettenspitze und blies den Rauch mit Kussmund auf die Männer. Geschickt fischte sie aus ihrem Kleid ein winziges Messer und reichte es an Karl-Heinz weiter.

      Er lachte, als habe er jetzt erst verstanden, dass es sich bei ihrem Besuch um ein amüsantes und prickelndes Tete-a-Tete handelte. Tollpatschig hielt er den Perlmuttgriff in der Hand, strich mit der flachen Klinge darüber und pikste sich in den Finger. Das Blut pulste auf seiner Haut und wuchs zu einer glitzernden roten Perle. Dann wurde die Flüssigkeit zu schwer, die Oberflächenspannung platzte auf, und der Tropfen fiel zu Boden.

      Die Augen der Zigeunerin hatten sich völlig verdreht. Es war der Blick einer Blinden; dennoch hatte Karl-Heinz das Gefühl, sie starrte ihm unmittelbar ins Gesicht.

      Vor ihm befand sich ein Tisch mit einer fadenscheinigen, ehemals wohl weißen Decke. Darauf lag ein Stapel Spielkarten, ein Bündel farbiger Ketten und eine Handvoll Muscheln. Karl-Heinz hob vorsichtig das Tischtuch an. Er blickte auf hunderte von ovalen, rostroten und braunen Tupfern. Seine Augen versanken in den milchigen Blick Maria Mulambos. Plötzlich bekam er eine Gänsehaut, und ihn schauderte von all den Leben, die ihr Schicksal in ihre goldberingte und willige Hand gelegt hatten …

      Sein Freund Sigi versuchte sich zu erinnern, warum er hier saß und nicht gemütlich in seiner Kneipe. Auf einmal fiel es ihm ein: Dieser sympathische dünne Schwarze hatte sie begleitet! Wo steckte er nur? Er sah sich um und erblickte stattdessen eine dunkle Frau. Sie besaß wunderbar ausgeformte große Hände. Zwei Finger umfassten einen goldenen Ring und drehten ihn spielerisch um sich selbst. Das sind keine Frauenhände, dachte er fasziniert.

      Es sind die Pranken eines Wolfs. Und ihr Gesicht ist das eines Wesens, das vor Zeiten vielleicht einmal ein Mann war …

      »Du musst mich einmal malen«, schnurrte Maria Mulambo und strich sich lasziv über die Wange. »Aber nicht jetzt … später.«

      Sigi spürte, wie ihn ein Nebel davontrug. Die Frau reichte ihm ein winziges Messer, das angenehm kühl in seiner Hand ruhte. Was für ein köstliches Spiel, dachte er und stach sich in den Finger.

      Er starrte auf das Blut, das auf seiner Haut perlte wie der Puls des Lebens. Auch er nahm das Tuch zwischen die Finger und hörte, wie es in seiner Hand rauschte. Es erzählte von Himmel und Hölle; von unglaublichen Dingen, die den eingravierten Leben gelungen waren und von ihrem Sturz, der fortdauerte bis ins Jetzt. Fast feierlich drückte er seinen Finger in das Tuch. Er fühlte, dass ihn ein Wind hochriss und wie ein Spielzeug durch die Luft jagte. Sigi wollte schreien, doch der heftige Atem blies jeden seiner Laute fort.

      Von fern her hörte er die rauchige Stimme Maria Mulambos: »Ihr habt mich gar nicht gefragt, was der Preis ist«, rief sie über den Sturm hinweg und lachte schallend.

       7. Kamila

       September 1941

      Wie die anderen Frauen befindet sie sich mitten im Hof. Es ist etwa zwölf Uhr mittags; die Sonne steht hoch am Himmel und beleuchtet mit ihrem grellen Licht die düsteren Baracken und jeden Zentimeter ihres Körpers. Sie blickt auf den armseligen grauen Haufen, der vor ihr im Dreck liegt: ihre Kleider. Vor vielleicht einer Stunde sind sie mit dem Viehtransporter am Ostbahnhof angekommen.

      Während der Reise war es dunkel, sie hatten keine Ahnung, wohin es in Wahrheit gehen mochte. Nur dass die ratternden Räder sie forttrugen, irgendwohin nach Deutschland, darüber waren sie sich klar. In dem Waggon hatte es nach Kuhscheiße und nach der Angst gerochen, die Tiere vor der Schlachtung empfinden. Die schwere Ausdünstung hatte sich vermischt mit ihrem eigenen Geruch nach Furcht und Wut. Doch wenigstens waren sie dicht beieinandergesessen; sie hatten sich an den Händen gehalten, polnische Lieder gesungen und sich gegenseitig getröstet: Fünf Frauen, die von einem Moment auf den anderen aus ihrem Leben gerissen wurden; fünf Frauen, die auf dem Feld gearbeitet hatten und plötzlich in eine Ladung Gewehrläufe blickten.

      Nach der Festnahme waren sie von einem Arzt untersucht worden. Er machte einen Sehtest und überprüfte die Gelenkigkeit ihrer Finger. Tüchtige Arbeiterinnen wurden jetzt in Deutschland gebraucht, hatte man ihnen gesagt. Frauen, die scharf sahen und fingerfertig waren. Sie würden sogar Geld verdienen, mehr als bei dieser Drecksarbeit hier zu Felde!

      Jetzt steht sie hier völlig nackt, so wie die anderen Gefangenen auch. Man hat sie in den Hof getrieben wie eine Herde Rindviecher. Eine Aufseherin hat in die Hände geklatscht und geschrien: »Kleider runter zur Entlausung!«

      Die Gefangenen haben sich ungläubig angeblickt. Daraufhin hat die Frau zornentbrannt Justynas Bluse aufgerissen. Justyna hat ihren Hass gezügelt und sich mit aller Würde, die noch möglich scheint, ihrer Kleider entledigt. Die anderen Frauen haben es ihr zögernd nachgetan, Kamila zuletzt. Die resolute Frau geht auf Justyna zu und beginnt sie zu untersuchen. Kamila schließt die Augen und öffnet sie erst wieder, als sie spürt, dass jemand auf sie zutritt. Es ist ein Mann. Ein Mann!

      Kamila spürt, dass sich alles in ihr verkrampft. Sie will davonlaufen und bleibt doch wie angewurzelt stehen. Sie tut dem Kerl nicht den Gefallen und senkt die Augen. Kamila blickt ihn an und sieht sein kaum unterdrücktes Begehren. Dahinter sieht sie noch etwas, das ihr gefällt: Angst. Der Herr Kurz, wie ihn die Aufseherin nennt, trägt über der linken Hand einen Sack aus Kautschuk. Das Gummi schlottert um seine Finger wie eine ekelerregende zweite Haut. Als er sie berührt, will Kamila schreien. Sie will ihm seine akribisch forschenden Pupillen auskratzen und ihm jeden einzelnen der über ihre Haut tastenden Finger brechen. Stattdessen geht ein Zittern durch ihren Körper, als sei er ein Baum, durch den ein heftiger Windstoß fährt. Sie macht sich vollkommen tot. Als er ihre Scham berührt, ist sie schon weit fort in Polen und schwitzt in der Sonne, die auf die prallen Ähren scheint. Sie lächelt ihrer Freundin zu. Nichts wird es fertigbringen, sie zu zerstören.

      Plötzlich spürt sie eine Hand, die nach ihr greift. Sie will die Finger packen und sich darin verbeißen, doch auf einmal hört sie ein Flüstern: »Kamila, wach auf!«

      Sie öffnet verwirrt die Augen und sieht vor sich das besorgte Gesicht von Justyna. Die ältere Freundin streicht ihr über das nassgeschwitzte Haar. »Hast du wieder geträumt, Vögelchen. Immer diese furchtbaren Träume …«

      Kamila drückt Justynas Hand, als wolle sie sie brechen. Jetzt endlich, da sie außer der Freundin niemand sieht, kommen die Tränen.

      Horst lag auf dem kühlen, nach Lavendel riechenden Laken und blickte zur Decke. Er konnte nicht einschlafen. Warum eigentlich nicht? Er hatte gut zu Abend gegessen – Königsberger Klopse, eines seiner Lieblingsgerichte. Vielleicht lagen sie ihm zu schwer im Magen? Er hätte doch, wie der Diener ihm anbot, den Digestiv trinken sollen. Der milde Likör hätte seiner Verdauung den nötigen Schwung verliehen. Nun kam er sicher stundenlang um seinen Nachtschlaf, den er so dringend brauchte. Morgen war wieder ein anstrengender Tag, und er konnte sich keine Anzeichen von Schwäche leisten. Dieser Kurz hatte ihn heute so merkwürdig angesehen. Als ob er genau wüsste, dass sich das Rädchen immer noch nicht richtig bewegte. Natürlich war das Sabotage gewesen, dachte Horst;

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