Das Bild der Zeit. Ruprecht Günther

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Das Bild der Zeit - Ruprecht Günther

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in den eigenen Reihen musste man aufpassen. Kurz war ein Typ, der seine Mutter vor die Wand stellen konnte, wenn er glaubte, sie sei eine Sozialistin. Manche Menschen gingen völlig grundlos über Leichen. Dabei war der Mann ein hervorragender Feinmechaniker, sein bester Mitarbeiter. Horst war im Grunde von ihm abhängig, und dieses Schlitzohr wusste das nur zu genau!

      Er seufzte und drehte sich auf die andere Seite. Unabsichtlich berührte er dabei Hilde, seine Gattin. Für einen Moment spürte er, dass sie erstarrte. Sie schläft nicht, dachte er erstaunt. Soll ich Konversation machen? Lieber nicht. Sie könnte vielleicht denken … sie würde denken, dass …

      Horst merkte, dass sich etwas in ihm regte. Einen Moment lang fühlte er einen leichten Schwindel. Ihn überkam die Anwandlung, sich auf seine Frau zu stürzen und sie zu nehmen wie eine Hündin. Er atmete heftig und drehte sich schwerfällig wieder zurück. Ich könnte es tun, dachte er und zwang seine unruhigen Finger zur Räson; aber es würde nichts nützen. Sie würde wie eine Puppe sein, ein Stück lebloses und willenloses Fleisch.

      Seit der Geburt ihres Sohnes hatte sich Hilde immer mehr von ihm zurückgezogen. Sie erfand zahlreiche Unpässlichkeiten wie Migräne, Rückenschmerzen und Anfälle von Schwäche. Einmal, als er sie ein wenig härter nahm, hatte sie geschrien, als wollte er sie abstechen. Horst war jegliche Lust sofort vergangen. Er war kein Mann, der eine Frau leiden sehen wollte. Er sehnte sich nach einer Partnerin, einer Gefährtin und Gespielin seiner Lust. All dies war seine Hilde nicht. Ihr gemeinsames Bett war nur noch eine Farce.

      Horst verlegte sich auf gelegentliche Bordellbesuche und wählte seine Sekretärinnen nach Kriterien aus, in denen die deutsche Rechtschreibung die geringste Rolle spielte. Er war nicht einmal so übel damit gefahren; Hilde war ihm in allen sonstigen Lebenslagen eine wunderbare Gattin und aufmerksame Freundin.

      Plötzlich musste Horst an die junge Polin denken.

      Kamila, das war ihr Name … Auf einmal fühlte er solche Hitze, dass ihm fast schlecht wurde.

DIENSTAG

       8. Erwachen

       14. September 2010

      Er wachte auf von einem Klopfen. Unmittelbar darauf spürte er einen bohrenden Schmerz. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, sein Körper sei in tausend Einzelteile zersplittert; dann lokalisierte er das Klopfen wie auch den Schmerz im Inneren seines Kopfes. Er stöhnte auf, rieb sich über die verklebten Augen, blinzelte und öffnete sie zu Schlitzen. Wie es schien, befand er sich in einem Keller. Von irgendwoher bahnte sich ein Lichtstrahl seinen Weg und befreite Myriaden Staubkörner aus der Welt der Schatten. Etwas kitzelte ihn in der Nase, und er musste niesen.

      Der Schmerz explodierte wie eine Bombe. Sekundenlang war er vollkommen blind; dann erblickte er vereinzelte Sterne, die über den Horizont torkelten und einer nach dem anderen verpufften. Sigi wischte sich den Schweiß von der Stirn, richtete sich auf und stellte fest, dass er auf einer Art Pritsche lag. Er biss die Zähne zusammen, riss sich mit einem Ruck hoch und sackte wieder an die feuchte Wand. Wo war er und was hatte er in Gottes Namen in diesem Kabuff verloren? Sein Blick irrte durch den halbdunklen Raum. Von den Wänden tropften feuchte Rinnsale, die ineinander liefen zu seltsamen Formen und Figuren. Davor lagerten alte Lumpen, vergessene Farbkübel, rostiges Eisen und die Puzzleteile eines zerbrochenen Spiegels. Auf einer Scherbe erblickte er den blutroten Abdruck eines schönen Mundes, der ihm zulächelte wie die Anmutung an ein lang vergessenes fernes Glück. In der Mitte des Raums standen zwei klapperige Stühle und ein alter Tisch.

      Er blickte auf die gegenüberliegende Wand. Dort befand sich eine weitere Pritsche. Und dort lag lang ausgestreckt und leise schnarchend er selbst. So, als habe sich sein Spiegelbild nach einem langen und aufzehrenden Streit selbstständig gemacht und endgültig von seinem Verursacher getrennt.

      Einen Moment lang setzte sein Herz aus. Ängstlich senkte er die Augen und starrte auf eine goldberingte fremde Hand, eine Designerhose und ehemals schwarz glänzende Schuhe: Lebende und tote Materie, die allesamt dem Überbegriff Karl-Heinz zuzuordnen war; nur, dass in dem zugehörigen Kopf er selber steckte. Seine Gliedmaßen durchlief ein Zittern. Er atmete hastig und kniff die Augen zusammen. Dann stand er mit wackeligen Knien auf, wankte auf den schlafenden Sigi zu und rüttelte ihn wach. Er wartete, bis der sich um-drehte, und fragte so trocken wie möglich: »Wer bist du?«

      Sigi Nummer zwei rieb sich die Augen, knurrte unwillig und drehte sich wieder zurück. Plötzlich war es mit seiner Selbstbeherrschung geschehen. Er riss den Kopf seines Alter Ego in die Höhe und schrie: »Wer bist du, verdammt noch mal?«

      Sein Spiegelbild betrachtete ihn wütend. Es machte Anstalten, zurückzuschreien, doch plötzlich erstarb ihm das Wort auf der Zunge. Der zweite Sigi rieb sich über die Augen, riss sie dann weit auf und begann zu stöhnen. Sein Oberkörper sackte in sich zusammen und stürzte, wie Minuten zuvor Nummer eins, zurück an die Wand. Mit glasigen Augen musterte er seine Glieder. »Ich bin eigentlich Karl-Heinz … und du, lass mich raten … Sigi?«

      Der Maler setzte sich neben seine treulose Hülle und krächzte: »Kannst … kannst du mir erklären, was passiert ist?«

      Karl-Heinz stierte auf seinen Ex-Körper und strich sich über die nicht vorhandenen Locken. Statt ihrer wanderte seine Hand über eine beginnende Glatze. Er blickte an sich hinunter, schüttelte den Kopf und versuchte, einen Gedanken zu fassen, der irgendwie weiterhalf.

      »Ich glaube, wir waren sternhagelbesoffen; wir hatten …«, langsam kamen seine grauen Zellen – waren es tatsächlich seine? – wieder in Fahrt. »Wir haben ein wenig lamentiert und im Spaß überlegt, wie es wäre, unsere Leben zu tauschen. Dann saß so ein dünner Schwarzer bei uns am Tisch. Du Vollidiot hast ihn zu einem Glas Wein eingeladen, er hat ein paar Kunststücke vorgeführt, und auf einmal saßen wir mit dieser Frau im Keller.«

      Er schreckte aus seinen Gedanken hoch. »Vielleicht ist sie ja noch hier und kann …«

      Sigi winkte ab. »Die ist längst über alle Berge.«

      Sein waidwunder Blick – den Karl-Heinz’ Augen nur mangelhaft umsetzten – blieb an seinem Freund hängen. »Gib mir meinen Körper wieder, bitte. Ich kann doch nicht …«

      Er schloss die Augen, und langsam überfiel ihn die volle Konsequenz seines Debakels. Wie Nadelstiche spürte er die Fremdartigkeit dieser Augäpfel und schuppigen langen Haare. Seine Muskeln waren verkrampft, seine Haut trocken und um seinen Brustkorb lag ein Ring, der ihm das Atmen schwer machte. Er wollte auf und davon laufen, doch alles, was ihn ausmachte, steckte in diesem idiotischen Körper, der sich so unsinnlich bewegte wie eine Puppe aus Styropor. Er spürte einen Knoten im Hintern und starrte Karl-Heinz wütend an: »Du … du hast Hämorrhoiden!«

      Der grinste verlegen und zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, ich konnte ja nicht ahnen, dass du eines Tages in meine Haut fahren würdest.«

      Plötzlich überfiel Sigi das Unglück wie ein Sturm: Wie sollte er in diesem Aufzug, mit diesem Gesicht und verspannten Körper zurück zu Joana, zu seiner Staffelei, seinen Bildern und Schulden? Seine brennenden Augen füllten sich mit Tränen … Das ist interessant, dachte ein weit entfernter Teil von ihm. Kann man Traurigkeit malen?

      Karl-Heinz legte den Arm um seine Schultern, fischte aus seiner ehemaligen – nun Sigis – Hose ein frisches Taschentuch und drückte es ihm in die Hand. »Tja, mein Alter«, sagte er und ließ den Blick von Sigis Augen über den Raum schweifen. »Da haben wir uns ganz schön in die Scheiße geritten …«

      Er horchte in seinen neuen Leib hinein und stellte

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