Das Bild der Zeit. Ruprecht Günther

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Das Bild der Zeit - Ruprecht Günther

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hatte, ging ihm das Ende doch etwas aufs Gemüt. Hätte sie nicht warten können, bis er von selber Schluss machte?

      Die beiden waren bei der zweiten Flasche Wein angelangt und versicherten sich wohl schon zum vierten Mal ihrer Zuneigung.

      »Du bist«, bekräftigte Karl-Heinz, »ein wahrer Freund. Wenn ich dich nicht hätte …«

      »Prost, Alter! Wir beide sind wirklich ein gutes Team.« Sigis Hand fuhr in seine Gesäßtasche und stieß auf gähnende Leere. »Verdammt noch mal! Ich habe schon wieder meine Börse vergessen.«

      Karl-Heinz winkte ab und warf dabei seinen Wein um. »Lass nur. Ich hab’s zum Glück ja wirklich dicke!« Er stellte vorsichtig das Glas senkrecht und schenkte mit unsicherer Hand nach. »Wenn nur diese Weiber nicht wären … Das heißt – du bist in der Richtung ja gut bedient … Deine Joana ist eine wunderbare Frau, habe ich dir das schon einmal gesagt?«

      Sigi dachte einige Sekunden nach und nickte ernsthaft. »Das ist sie tatsächlich … Wenn ich ihr bloß ein besseres Leben bieten könnte. Nur ein paar Tage in eine andere Haut schlüpfen … zum Beispiel in deine. Diese Malerei ist doch total für die Katz.«

      Sein Freund kniff die Augen zusammen und musterte ihn schräg.

      »Weißt du was? Das ist eine gute Idee! Wenn du für einige Tage – oder sagen wir eine Woche – ich sein könntest, und ich du, das wäre …«

      »Um Gottes willen! Der Satz war einfach nur so dahin gesagt.«

      »Nein, tatsächlich, ich meine …« Karl-Heinz überlegte, was er mit seinem Gedanken eigentlich ausdrücken wollte. »Also, ich habe ja im Prinzip alles, was du brauchst – und du hast etwas, das ich …«

      Seine Stimme wurde belegt. Er bemerkte, dass sich die Stirn seines Freundes in Falten zog und ließ den Rest des Satzes in der Schwebe.

      Sigi blickte angestrengt auf sein halbleeres Glas. Auf der Fläche spiegelten sich Karl-Heinz’ geschlängelte Gliedmaßen und ein riesiger Kopf, dessen Inhalt in Schlieren über die Fläche strömte. Interessant, dachte er und wusste einen Augenblick nicht, ob er gerade selbst dachte oder von jemand anderem gedacht wurde. Kann man eigentlich das Denken malen? Er musste unbedingt Joana fragen.

      Ohne dass es die beiden merkten, hatte sich ein weiterer Gast an ihren Tisch gesetzt: ein dürrer dunkelhäutiger Mann, der vor seinem Mineralwasser hockte und hineinstierte, als könne er in den aufsteigenden Perlen Schicksale lesen.

      Ein Hund, der sich unter Sigis Stuhl zu einem Nickerchen niedergelegt hatte, winselte, stand auf und suchte sich einen anderen Platz.

      Der Fremde schloss einen Moment lang die umschatteten Augen. Plötzlich richtete er sich gerade, wandte seinen stechenden Blick auf die Männer und sagte mit starkem Akzent: »Vielleicht … könnte ich Ihnen helfen …«

      Die Freunde fuhren aus ihrem Schweigen hoch und betrachteten den ungebetenen Gast. Seine dunkle Haut wirkte durch die weiße Kleidung nur noch schwärzer. Er war so spindeldürr, dass ihm Hemd und Hose um den Leib flatterten wie eine Gebetsfahne. Sie wussten nicht recht, ob sein Anblick komisch wirkte, bedrohlich oder zum Gotterbarmen.

      Karl-Heinz setzte sein geschäftsmäßiges Lächeln auf und erwiderte kühl: »Nein, vielen Dank, wir sind bereits bestens bedient.«

      Der Mann fuhr fort, die beiden anzustarren und entblößte seine wirr stehenden Zähne. »Ich weiß genau, was Sie sich wünschen!«

      Die ungleichen Freunde überfiel ein Frösteln. Nach einer Schrecksekunde riss Sigi sich zusammen und prostete dem Fremden zu. Unsicher winkte er nach Susi, bestellte ein weiteres Glas und schenkte es voll bis an den Rand.

      Der Schwarze hob das Utensil hoch, senkte es langsam in die Schräge und musterte es wie eine sich hochräkelnde Schlange. Die Flüssigkeit weigerte sich beharrlich, den Gesetzen der Schwerkraft zu folgen und zu tropfen. Plötzlich rollte der Mann mit den Augen, legte das Glas an die Lippen und spülte den Wein in einem einzigen Zug herunter.

      Sigi lag eine ironische Bemerkung auf der Zunge, doch als er sie aussprechen wollte, hatte er sie schon vergessen. Er schenkte ein weiteres Mal voll und blickte gebannt auf das Glas. Der Fremde hob es wie einen Kelch in die Höhe und hielt es sekundenlang in der Neige. Die Flüssigkeit darin verharrte, als sei sie zu Gelatine erstarrt. Augenzwinkernd wandte er sich seinen neuen Bekannten zu und flüsterte: »Magie …«

      Dann schüttete er den Wein durch die Kehle und lachte, bis ihm die Tränen kamen.

      Später verstanden die beiden nicht mehr genau, wie es eigentlich hatte kommen können: War es der kühle Weiße, der ihnen so wunderbar leicht durch die Kehlen rann? Vielleicht lag es auch an dem schwülwarmen Wetter, an ihrer merkwürdigen Verfassung oder dem seltsamen Benehmen des geheimnisvollen Fremden. Eine Viertelstunde später saßen sie jedenfalls zu dritt in Karl-Heinz’ Auto und brachen in halsbrecherischen Kurven durch den Kiez.

      »Es ist gar nicht weit«, hatte der Mann versichert, »nicht einmal ein Kilometer. Dort wartet Valtinho auf euch – oder sollte ich sagen: Maria Mulambo?«

      Er lachte kehlig, unterbrach sich brüsk und dirigierte Karl-Heinz in eine düstere Gasse, die aussah, als sei die Maueröffnung spurlos an ihr vorübergezogen: Ein Schild vor einem leerstehenden Haus pries in verrosteten Lettern Kolonialwaren an. Graue, rußverschmierte Fassaden warben für Produkte aus Plaste und Elaste; alte Sofas, Kinderwägen und halbe Autotüren warteten auf ein Sperrmüllfahrzeug, das wohl niemals kommen würde.

      Der Wagen rauschte durch ein efeubewachsenes Tor und gelangte in einen gepflasterten Hof. Schwere Seilwinden hingen nutzlos aus den Speichern und kündeten von Zeiten, als hier noch Getreide und Mehl gelagert wurden. Aus den Fenstern schälten sich hohlwangige Gesichter, die misstrauisch auf das Cabriolet hinunteräugten. Karl-Heinz fuhr in den zweiten und schließlich dritten Hinterhof, der noch trister wirkte als seine Vorgänger. Vor einer brökkelnden Kellertreppe und spinnwebenverhangenen Scheiben blieb der Wagen stehen. Ein Rabe stürzte vor Schreck aus einem Baum, landete auf einem rostigen Fensterbrett und putzte verstimmt seine Krallen.

      Ihr Führer flitzte aus dem Wagen, öffnete die Tür und dirigierte die Gäste in den Keller. Benommen stolperten sie an zwei rotschwarzen Figuren vorbei nach innen. Sie befanden sich in einem Vorhof der Hölle. Oder war es das Paradies? Die beiden sahen sich nicht mehr in der Lage, solch feine Unterscheidungen zu treffen. Sie standen in einem stickigen Kabuff, das erfüllt war vom Duft nach Räucherstäbchen und einem anderen undefinierbaren Geruch, der ihnen fast den Atem raubte. Der Raum war durchdrungen von einem rötlichen Licht, das mit dem blutroten Vorhang im Hintergrund korrespondierte. Davor stand ein zerschlissener Sessel, in dem eine Frau von fast überirdischer Schönheit thronte.

      Sie war so dunkel wie die Nacht. Ihre blauschwarzen Locken kringelten sich über die kräftigen Schultern. Die schwarzen Augen mit den vergrößerten Pupillen schillernden, als seien es Eilande hinter den Grenzen dieser Welt. Über den langen Wimpern malten sich rot und blau changierende Schatten. Die glänzenden, hochstehenden Wangen überzog zarter Silberstaub. Ihre kräftige, arrogante Nase stand darin wie ein Fanal. Darunter wölbte sich die sinnliche und anmaßende Linie des Mundes.

      Die Frau trug lange weiße Handschuhe, die bis zur Hälfte ihrer Finger reichten; die Glieder lugten daraus hervor wie schwarze, in blutiges Licht getauchte Krallen. Sie trug ein rotes, mit schwarzen Rüschen abgesetztes tailliertes Kleid. Ihr nach innen gerichteter Blick irrlichterte durch den Raum und blieb an den Freunden hängen. Lächelnd entblößte sie ihre blitzenden Zähne und wies auf zwei windschiefe Stühle. Die Männer torkelten darauf zu und sanken nieder.

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