Der geistige Weg zum Überleben. Brunhild Börner-Kray
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Wer dem Alltag und seinen Pflichten entfliehen will in der Annahme, dass dieser ihm in seiner Entwicklung im Wege steht und ihn daran behindert, hat wohl gerade dort die meisten Lektionen zu lernen. Zu gern möchte ein Schüler oft diese wichtigste Stufe überspringen. Wenn es aber gelungen ist, die auf dieser Stufe liegenden Prüfungen zu bestehen, dann verändern sich automatisch die Verhältnisse, die der Entwicklung anscheinend entgegengestanden haben.
Die Schwierigkeiten des Alltags sind oft nichts anderes, als die Schwierigkeiten mit dem „niederen" Ego. Ohne den Hebel dort anzusetzen, dürfte es keinen echten und dauerhaften Fortschritt geben, denn ohne Bewältigung des Ego fällt ein Schüler immer wieder zurück und zwar so lange, bis er diese erste Stufe bewältigt hat. Und jeder Fortschritt ist bis dahin nur ein scheinbarer; denn das unbewältigte Ego ist es immer wieder, das alle guten Ansätze zunichte macht.
Die Schwierigkeiten im Alltag und die mit den Mitmenschen sind ein untrüglicher Spiegel, in dem eigene Mängel und Fehler offenbar werden, aber solche Erfahrung ist für die geistige Entwicklung sehr wertvoll. Niemand darf sich scheuen, sein Spiegelbild genau und kritisch zu betrachten, weil ohne Selbstbetrachtung und Selbsterkenntnis es unmöglich ist, mit der Arbeit an sich selbst zu beginnen. Der im Ego Verstrickte kann sein geschautes Bild schwer ertragen, weil er leicht verletzbar ist und eine Wandlung von anderen, nicht aber von sich selbst erwartet.
Die Überwindung des Ego betrifft die Entwicklung der charakterlichen Seite des Schülers. Der „Ich-Verhaftete" kann sich auch nur für eine kurze Zeit beherrschen. Sein wahrer Kern wird bald hervortreten, denn sein Denken und Sprechen kreist um ihn selbst. Dazu wird er oft das Wort „ich" benutzen. Das ist ihm nicht bewusst, weil er wenig Selbstkontrolle übt, dafür kritisiert er andere um so mehr.
Niemand hat das Recht, einen anderen zu kritisieren. Entwicklung zeigt sich vielmehr darin, Verständnis für den anderen aufzubringen. Wem das gelingt, der wird bald entdecken, wie günstig die eigene Entwicklung dadurch beeinflusst wird, denn es werden aufbauende, positive Kräfte in ihm freigesetzt. Durch negative Kritik werden dagegen negative Kräfte aktiviert. Daraus entstehen nur Missstände.
Jemand, der von anderen nichts erwartet und sie auch nicht kritisiert, lebt friedvoller und glücklicher, dagegen sind Widrigkeiten Auswirkungen von Fehlhandlungen und Fehlhaltungen, die wiederum unglücklich und unzufrieden machen. Die eigenen unguten Gefühle und Regungen, und auch oftmals das Verhalten unserer Mitmenschen, das uns nicht gefällt, sollten als Hilfen erkannt werden, als Fingerzeige, dass bei uns selbst etwas nicht in Ordnung ist.
Der ernsthaft Strebende, derjenige, der die Wahrheit ertragen kann, wird seinen Nutzen daraus ziehen und die Zusammenhänge ergründen. Jede Disharmonie, jeder ärger, jedes Unbehagen, signalisiert uns ein Fehlverhalten, ein Verletzen der Gesetze des Lebens.
Was hier zum Ausdruck kommt, erscheint manchem hart, und ein Egoist wird vieles nicht akzeptieren im Hinblick auf die eigenen Schwierigkeiten, deren Ursache er außerhalb seiner selbst sucht.
Wie aber können wir zur Kenntnis der Gesetze kommen? Indem wir an uns selbst und an anderen, am eigenen Verhalten und an dem anderer die daraus resultierenden Wirkungen klar und objektiv beobachten und studieren ohne zu kritisieren. Wie ein Außenstehender, ein „Sich-selbst-Entrückter", sollten wir die Aspekte des Lebens, unsere Handlungen und ihre Wirkungen durchdenken, um an den Kern heranzukommen, der uns die gesetzmäßigen Auswirkungen offenbart.
Jede Disharmonie und alles was Unordnung in unser Leben bringt, resultiert aus Verletzung der Lebensgesetze. Je freier wir vom Ego werden, desto leichter ist es, die Gesetze zu erkennen.
Bemühen wir uns ernsthaft um dieses Studium, so stellen wir fest, dass die Schwierigkeiten kleiner werden. Man muss sozusagen „vor sich selbst auf der Lauer liegen". Dann ist keine Zeit mehr vorhanden, sich um andere zu kümmern, insbesondere in Fällen, die uns nichts angehen, geschweige denn, etwas von unseren Mitmenschen zu erwarten. Dadurch werden schon wieder Möglichkeiten, Gesetze zu verletzen, ausgeschaltet und allmählich spüren wir, dass unser Leben angenehmer verläuft.
Wer es vermag, die Gesetze des Lebens voll zu erfassen und sie im rechten Sinne zur Anwendung zu bringen, hat es zur Meisterschaft gebracht. Auf dem Wege zur Ich-Überwindung ist Geduld notwendig. Ein Schüler soll nicht versuchen vorwärts zu stürmen. Dem muss Einhalt geboten werden. Selbstdisziplin, Ruhe und Gelassenheit sind von größter Wichtigkeit. Nur in einem ruhigen Gemütszustand ist er in der Lage, den sechsten Sinn der Intuition zu entwickeln, der ein großer Fortschritt und eine große Hilfe auf dem langen Pfade der inneren Entwicklung ist. Intuition führt zur Wahrheit. Sie kommt aus den Göttlichen Quellen unseres wahren Selbst und vermittelt mehr als in Büchern steht. Intuition ist die Quelle lebendigen Wissens.
Wer die harte Arbeit am Selbst leistet, um sein Ego zu überwinden, wird in den Bereich seines wahren Wesens geführt, in jenen Bereich, wo die Intuition zu Hause ist. Sie ist, lassen wir sie zu, das untrügliche und sichere Zeichen, das uns stets den rechten Weg weist; sie lässt uns die rechten Antworten auf alle Fragen finden und mit Sicherheit Gefahren und Klippen erkennen. Intuition ist es auch, die durch Schminke und äußeren Schein hindurch dringt bis zum Wesenskern unserer Mitmenschen, dorthin, wo es keine Täuschung gibt, sondern nur nackte Wahrheit.
So ist auch jene Bibelstelle zu verstehen, da das Menschenpaar sich vor Gott versteckte, weil es erkannte, dass es nackt war. Es ist nicht die körperliche Nacktheit gemeint, sondern jene, die Gedanken und Gefühle offenbart, weil Gott in den innersten Raum des Menschen schaut, in die Seele. Die geistige Nacktheit ist durch die körperliche in der Bibel symbolisiert, wie vieles in ihr in der Symbolsprache zum Ausdruck gebracht wird.
Wer sich vom Zwang des Ego lösen kann, ist auf dem Wege zur Freiheit, die es nur im Geiste gibt. Freiheit hat jener erlangt, der gelernt hat, die Gesetze des Lebens zu erfassen. Es gibt nur eine Freiheit im Geiste, die durch innere Entwicklung erworben wird.
Die Möglichkeit, sich durch materielle Mittel seine Wünsche zu erfüllen, ist nicht Freiheit. Freiheit tritt nicht äußerlich in Erscheinung, wächst vielmehr aus dem Loslösen vom Ego.
Das Ego fesselt und begrenzt. Es verschließt das Tor zum Göttlichen Selbst, und dadurch sind wir Unfreie und Sklaven. Es tritt immer wieder nach außen hervor, verstößt gegen die Gesetze des Lebens und verursacht dadurch oft schmerzhafte Schwierigkeiten.
Der irdische Verstand ist der Zerstörer der Wahrheit. Für jede Seele wird irgendwann auf dem langen Pfad der Entwicklung einmal der Tag kommen, an dem sie sich ihres Höheren Selbst, ihres wahren Lebens bewusst wird. Dann ist sie fähig, ihre beiden Selbst als Kontrast zu sehen, das Ego als das begrenzende irdische Selbst und das Ich als das ewige Selbst. Dieses wird dann im täglichen Leben immer stärker in Erscheinung treten. Probleme und Schwierigkeiten verlieren ihr Gewicht, weil der in seinem höheren Selbst Erwachte ein Gespür für höhere Welten entwickelt und dadurch die irdischen Dinge in ihrer wahren Perspektive sieht. Seine Sensitivität befähigt ihn, die Strahlung aus geistigen Regionen zu empfangen.
Das Tor zur Freiheit wird durch Überwindung des Ego geöffnet. Haben wir das erreicht, dann können wir den Raum unseres tiefsten Innern, unseres ewigen Wesens betreten, der nur Stille, Harmonie und Glückseligkeit ist. In diesen zentralen Kern unseres Wesens dringt keine Emotion mehr, weil er nur erfüllt ist mit göttlicher Intuition, die uns die Freiheit