Nina und die Sphinxwelt. Sarah Nicola Heidner
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„Ich denke, ich geh mal langsam nach oben“, überlegte Nina nach einem kurzen Blick auf die Küchenuhr. Da ihre Eltern immer noch mit Tobias beschäftigt waren, lief sie schnell ins Bad und wusch sich das Gesicht. Sie schaute in den großen Spiegel, der die gesamte vor ihr liegende Wand bedeckte. Ihr blickte ein schlankes Mädchen entgegen, das die schulterlangen, dunkelbraunen Haare zu einem flotten Zopf zusammengebunden hatte. Die Haarfarbe passte perfekt zu den haselnussbraunen Augen, die etwas zu groß für das Gesicht schienen. Es trug eine kurze, weiße Hose und ein knallbuntes T-Shirt.
Nina hatte sich schon fast ein Jahr auf die Klassenfahrt gefreut, eigentlich seitdem die Klasse angefangen hatte, sie zu planen, und war dementsprechend aufgeregt. Grinsend zwinkerte sie ihrem Spiegelbild noch einmal zu und lief dann nach unten. „Ich bin fertig!“, verkündete Nina, während sie durch die Küche in Richtung Garderobe lief, um sich ihre Jacke zu holen.
„Hast du schon die Zähne geputzt?“, fragte nun ihr Vater.
Nina schüttelte den Kopf.
„Dann aber los!“
„Von mir aus.“ Sie lief wieder nach oben ins Bad. Sie konnte nicht gut lügen und wollte es auch nicht. Als kleines Kind hatte sie abends immer behauptet, sie sei nicht müde, doch es hatte so albern geklungen, dass ihre Eltern sofort gewusst hatten, dass es gelogen war. Aus ihrem Mund kam grundsätzlich die Wahrheit, was auch der Grund dafür war, dass manche sie nicht mochten, denn sie sagte ebenso frei heraus, wie sie die neuen Klamotten ihrer Freundinnen fand.
Mit vier Mädchen aus ihrer Klasse machte sie jedoch fast immer etwas zusammen. Da waren Pia, die ein Jahr älter war als Nina, weil sie eine Klasse wiederholen musste, die pferdevernarrte Maria, die manchmal ein bisschen nervte, Mia und Jana. Mia und Jana ärgerten sich die ganze Zeit gegenseitig, was ungefähr so aussah:
„Blödmann!“
„Selber!“
„Gar nicht!“
„Immer dreimal mehr als du!“
„Gummimauer!“
„Ha, zu spät!“
„Stimmt nicht! Immer zehnmal mehr als du!“
„Ich hab’s zuerst gesagt.“
„Überhaupt nicht, Dummerchen!“
„Böse Hexe!“
„Mensch, du hast die Intelligenz eines Flohs!“
„Besser, als wenn man wie du gar keine hat!“
Die anderen mussten immer darüber lachen, was die beiden dann dazu brachte mitzulachen.
„Beeil dich, Nina!“, schreckte die Stimme ihrer Mutter sie aus ihren Gedanken. Sie war in der Tür erschienen und schaute ihre Tochter an. „Nicht träumen sollst du, Zähne putzen. Jetzt musst du nämlich wirklich bald los. Ich hole schon mal deinen Koffer.“
„Ja, gut. Er liegt unter meinem Bett.“ Jetzt griff das Mädchen endlich zu seiner Zahnbürste.
Eine Minute später wollte Nina sich noch von Schneewittchen verabschieden, doch die war verschwunden. Also rasten sie und ihre Mutter zur Bushaltestelle. Gerade als sie ankamen, schlossen sich vor ihren Augen die Türen des Busses. Sie winkten und riefen, doch der Bus fuhr davon.
„Na gut, dann fahr ich dich eben“, meinte Ninas Mutter. Sie rannten zum Haus zurück und setzten sich ins Auto. Nina schlug die Tür zu, und sie fuhren los. Während der Fahrt überholten sie sogar noch den Bus, und als sie vor der Schule hielten, stand dort erst die Hälfte der Klasse und von ihren Freundinnen war nur Mia da.
„Hi!“, begrüßten sie sich, während Ninas Mutter mit der Klassenlehrerin redete und dann schließlich winkend davonfuhr.
„Bist du auch so aufgeregt?“, fragte Mia, die hibbelig auf der Stelle herumhüpfte.
„Klar!“ Nina stellte ihren Koffer ab.
„Mann, ist der schwer“, meinte Mia, die ihn kurz hochhob. „Meiner ist viel leichter. Was hast du denn darin? Etwa Backsteine?“
„Meine Mutter musste mir noch tausend Sachen einpacken: die fünfte Taschenlampe, ein Nachtsichtgerät, Medikamente, mein Taschenmesser und Ähnliches.“ Nina verdrehte die Augen.
„Oh Gott, du Arme.“ Mia unterdrückte ein Lachen. Dann deutete sie an ihr vorbei, weil Jana erschien.
„Hi, Nina“, begrüßte das Mädchen sie.
„Hi.“ Nina nickte ihr zu, während sich Jana an Mia wandte.
„Hi, Zimtzicke.“
„Guten Morgen, Zitrone.“
„Wieso Zitrone?“ Verständnislos schaute Jana Mia an.
„Na, weil du so sauer bist wie eine Zitrone – also bitte Abstand zu mir!“
„Du bist so einfallsreich wie eine Spinne, die immer das gleiche Netz spinnt! So dämlich!“, rief Jana und schwang ihren Koffer.
Nina und Mia duckten sich.
„Immer dreimal mehr als du!“ Mia lachte, während Jana schnell antwortete: „Gummimauer!“
„Zu spät“, Mia seufzte theatralisch, „das tut mir jetzt aber leid!“ Plötzlich prustete sie los und Jana und Nina stimmten mit ein.
„Sind jetzt endlich alle da?“, fragte ihre Klassenlehrerin und blickte in die Runde.
Wolken zogen auf und Nina fröstelte. „Mensch, ist das kühl hier.“
„Du bist echt ’ne Frostbeule!“
Von hinten erschienen Maria und Pia. Sie schlugen die Hände zusammen und warteten, bis ihr langweiliger Mathelehrer sie durchgezählt hatte: „Zwei, vier, sechs, acht, zehn, zwölf, vierzehn, sechzehn, achtzehn, zwanzig, zweiundzwanzig, vierundzwanzig, sechsundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig. Ja, alle da, Madam.“
„Wieso nennt er sie bloß immer Madam?“, fragte Pia kichernd, während ihre Lehrerin, Frau Barinkson, in die Hände klatschte. „Schön, schön“, sagte sie und schaute zu ihrem Kollegen Malan, Ninas Englisch- und Sportlehrer, der zugleich auch noch ihr Lieblingslehrer war, und zu Herrn Pikk, ihrem Mathelehrer, der bei der Klasse reichlich unbeliebt war, was an seiner nervösen Art lag, aber auch dem Fach, das er unterrichtete.
„Gut, alle da. Jetzt fehlt nur noch der Bus.“
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis der große Doppeldeckerbus endlich vor dem Schultor hielt und ein kleiner Mann mit einer Zigarette im Mundwinkel heraussprang.
„Sie sind zu spät“, sagte Frau Barinkson mühsam beherrscht und jede Silbe betonend. „Der Bus sollte um Punkt acht Uhr hier stehen!“
„Jetzt ischt’s eben ein bissel später geworden“, brummte der Busfahrer und zuckte mit den Schultern. „Also –