Kreuzwege unter der Sonne. Mario Monteiro

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Kreuzwege unter der Sonne - Mario Monteiro страница 4

Kreuzwege unter der Sonne - Mario Monteiro

Скачать книгу

nicht etwa da Cunha?«

      Jere lachte. »Er heißt doch nicht da Cunha. Er heißt nur Zé. Und ich will Jere heißen«, protestierte er. »Jeremias gefällt mir nicht!«

      »Was willst du jetzt machen?«, fragte ich und hielt die Hände auf, als trüge ich einen Ziegel.

      »Wenn ich Fußball spielen könnte …«

      Doktor Moreira untersuchte ihn ein letztes Mal und klopfte seinen Brustkorb ab. »Fußball … Na ja, Jere, wenn du Fußball spielen willst, dann tu es!«

      Ich muss ziemlich verloren in meiner Ecke gesessen haben.

      »Was hast du?«, fragte Jere, als er in das kleine Büro hereinsah.

      »Nichts«, log ich. »Es ist … es ist nur ein Moment. Ich habe das häufig.« Dann griff ich nach dem Hörer und versuchte, São Paulo zu erreichen. Vielleicht konnte ich einen kleinen Aufschub erwirken … nur einen Monat.

      Vierzehn Tage zuvor hatte der Junge nicht gewusst, was ein Telefon war. Als ich aufgelegt hatte, zeigte er auf den Apparat. »Teléfono«, erklärte er begeistert. Wir lachten beide. Plötzlich aber wurde er ernst. »Du hast etwas. Ich weiß das!«

      Ich gab keine Antwort. Stattdessen nahm ich einen Zettel aus der Schublade und tat, als notierte ich irgendetwas Wichtiges. Ich schämte mich. Warum wollte ich es vor dem Buben verheimlichen?

      »Ich muss zurück nach São Paulo«, sagte ich endlich und sah dabei zum Fenster hinaus. Als ich mich umwandte, sah ich eine einzelne Träne über Jeres Gesicht rollen.

      »Warum … musst du?«

      Wieder hatte ich keine Antwort, die ihn hätte überzeugen können. Was wusste er von unserer Welt?

      »Ich werde wieder Steine machen!«

      Es traf mich wie ein Schlag.

      »Senhor Ronaldo wird mich wieder Steine machen lassen. Die Rippen sind ganz okay. Und ich mache bessere Steine als Frico! Viel bessere!« Jere straffte seinen Oberkörper und versuchte, mir etwas von seinem jugendlichen Bizeps zu zeigen. »Ich werde billiger sein als Frico!«

      »Nein! Jetzt hast du einen Ausweis. Du bist Jeremias da Cunha!«

      »Jere«, widersprach er und wurde ernst.

      »Okay. Dann eben Jere. Auf jeden Fall wirst du mit mir nach São Paulo fahren.«

      Er lehnte sich an die kahle Bretterwand und hielt den Atem an. »Nach … São … Paulo? Wo ist das? Mit einem Omnibus?« Dann lachte er laut. »Du schwindelst.«

      »Nein, ich schwindle ganz und gar nicht.«

      »Ich … Omnibus fahren?«

      »Ja, du.«

      Bis jetzt hatte Jere noch nie in einem Bus gesessen. Meine Gedanken jagten hinter mir her. Das Abenteuer, auf das ich mich durch dieses Versprechen eingelassen hatte, kam mir zu spät in den Sinn.

      Zehn Tage quälte ich mich damit herum. Zehn Tage mit Leptospirose, Chagas-Leiden, Ruhrpatienten, Fieberkurven, Knochenbrüchen, Magenblutungen. Zehn Tage im Zickzack zwischen Leben und Tod.

      Per Telefon bettelte ich in Rio um ein paar Pakete Verbandsmaterial, um Serum, um ein paar tausend Reais für dringende Medikamente. Der Präsident habe versprochen … Der Gesundheitsminister habe das Gesuch weitergegeben … Der Sonderbeauftragte sei zurzeit auf Europareise … Nächste Woche vielleicht … Ich legte auf.

      Schwester Miriam stand in der Tür. Der kleine Vitório war vor ein paar Minuten gestorben. Seine Mutter hatte ihn zu spät auf die Station gebracht und das, was ihn hätte retten können, fehlte im Regal. »Gott nimmt sie«, sagte die Frau mit dem toten Kind im Arm. Von sieben Kindern war es das dritte, das sie verloren hatte. »Gott gibt sie, Gott nimmt sie.«

      Agreste endlos. Leben von heute auf morgen. Hoffen, warten, beten und glauben. Vor allem glauben. Ich hielt die Hand über die Augen und blinzelte durch das Fenster hinaus in die gleißende Weite. Platz genug gab es hier. Platz für Kreuze aus knorrigen Ästen, mit Bast zusammengebunden.

      »Mario«, sagte Schwester Miriam und umarmte mich, als wir mit Jere vor dem Überlandbus standen. »Ach, Mario!«

      Jere kletterte wie im Traum in den Bus. Drei Tage und zwei Nächte dauerte die Reise. Quer durch Brasilien. Tagsüber dösten wir vor uns hin, rutschten hin und her, versuchten minutenlang, eine andere Lage ausfindig zu machen, um unsere Rücken zu vergessen, und sehnten uns nach dem nächsten Stopp. Dann und wann riss Jere die Augen auf, wenn wir auf Zentimeterdistanz an einem Lkw vorbeirutschten. Tagelöhner oft, auf schwankenden Brettern dicht gedrängt aufeinanderhockend, braune, runzelige, sonnenversengte Gesichter, Frauen mit ihren Kindern dazwischen, irgendwo Halt suchend, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Magisch vorbeigleitende Landschaften, dazwischen unsere bizarren, unsicheren, wahllos zusammengeschraubten Gedanken, plötzliche Vorstellungen, die sich nie verwirklichen ließen, wie Blitze, die im Unwetter zuckten und uns das Dunkel überließen. Brasilien endlos.

      »Kann ich Steine machen in São Paulo?«

      Ich musste lachen. Warum lachte ich eigentlich? Es war mitten in der Nacht. Hinter mir hustete jemand und klopfte auf meinen Rücken. »Nein«, flüsterte ich.

      »Warum nicht?«

      Wie sollte ich es dem Jungen erklären, der nichts gesehen hatte, außer drei, vier Hütten, einen Haufen Ziegel und den staubigen engen Weg zum Gipsofen, zu dem er jeden Morgen Holzkohle schleppte? Wie sollte ich ihm verständlich machen, wie es ist, wenn du über nie endende Asphaltbänder jagst und an hundert steil in den Himmel ragenden Betonriesen entlangirrst, mitten im Donner von Bussen und Mikrotransportern, Lastern, Bahnen, uralten Vehikeln auf abgefahrenen Reifen, aufgepeitscht vom Kreischen der Bremsen neben dir, von Trillerpfeifen, dem Gebrüll von tausend Straßenhändlern, dem nervenzerreißenden Kratzen der Zementmischer, hart auf hart aufeinanderschlagenden Stahlträgern, absinkend im Tapsen und Rennen der Dahinflüchtenden, gefangen im Taumel der Eiferer, zwischen Glück und Ausweglosigkeit, Hass und Hölle, Angst und Jubel derer, die sich selbst nicht mehr verstehen und widerstandslos in die Einsamkeit schlittern. Brasilien endlos!

      Zwei Nächte lang sah ich dem Buben ins Profil, während er mit halb offenem Mund im zerrissenen, abgeschabten Polster hing. Was hatte ich verbrochen? Ich suchte nach handfesten Gründen, nach Trost, nach Halt, nach der geringsten Rechtfertigung für meinen Entschluss.

      »Du wirst lesen und schreiben lernen«, erklärte ich am anderen Morgen.

      Jere riss seinen Kopf herum und starrte mich an wie ein Gespenst. »Das werde ich nie lernen. Das ist unmöglich. So etwas … das kann ich nicht.«

      Ich fror. Von Neuem überfiel mich ein Nebelschleier voll mit Zweifeln, Ängsten und unlösbaren Fragen, aus denen ich nicht mehr herauszufinden glaubte.

      Jere schüttelte immer wieder den Kopf. »Nein«, sagte er leise und es hörte sich an, als bettelte er. »Nein. Ganz bestimmt. Das geht … ich kann das nie.«

      »Jeder kann lesen und schreiben lernen«, herrschte ich ihn an. »Und rechnen natürlich auch.«

      »Ich kann rechnen.« Jere zählte seine Finger ab. »Senhor Ronaldo zahlt jede Woche zehn Reais.« Jere strahlte. »Siehst du, dass ich rechnen kann?«

Скачать книгу