Kreuzwege unter der Sonne. Mario Monteiro
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Читать онлайн книгу Kreuzwege unter der Sonne - Mario Monteiro страница 6
Marcelino stand am Straßenrand. Vor ein paar Tagen war er neun geworden. Groß genug für den Job, wie er meinte. Klein-Sonja wird es schon lernen. Sie war doch auch schon sieben.
»Da runter. Geht doch gut. Rutsch mal durch.«
Klein-Sonja krabbelte unter dem aufgebogenen Drahtverhau ins Minengelände. Fast eine Woche lang waren sie unterwegs gewesen. Zuerst ging’s mit dem Ochsenfuhrwerk ab, dann hockten sie einen halben Tag auf der alten Kiste der Zuckerrohrschneider. Bis sie der Fahrer des Überlandbusses aus lauter Mitleid aufgeladen hatte. Als die Grube in Sicht kam, gab er den Kleinen einen freundlichen Klaps auf die knöchernen Schulterchen und setzte sie ab.
»Guck mal, Sonjazinha«, rief der Bub und kam gar nicht los von den Baggern und Zugmaschinen. »Guck doch! Einer hinter dem anderen.«
Schuttberge aus Zinngestein, dampfende Leiber, schweißnass und staubverkrustet, braun gebrannte Kinder in ausgefransten Shorts, nackte Rücken, Gummischlappen, Wickeltücher um blutende Füße. FORTUNA NOVA! Für einen Moment vergaß Marcelino das bohrende Gefühl im Magen.
»Guck doch, dort«, begeisterte er sich. »Dort stehen sie!«
Nebeneinander, hintereinander, gebückt, kniend, mit bloßen Fingern im Schutt wühlend, dann plötzlich aufspringend und auseinanderjagend, wenn eine der gelben Maschinen herüberstampfte. Jubel, Schimpfsalven, Flüche, Gelächter, im nächsten Moment verstummend, dann und wann umarmten sich zwei Freunde. Mancher schaffte es doch.
»Vai ficar bom aqui!« Marcelino streichelte Klein-Sonja. Es werde schon werden, versprach er ihr.
Ein heiserer Ruf unter einem Schutzhelm drang zu den beiden herüber: »Aufpassen!«
Oft verschluckte einen der Staub, die Fahrer der Trecker sahen die Kleinen kaum, und dann war es auch schon passiert. Aber dort, von wo sie herkamen, sah es nicht besser aus.
Seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet, das Land war versteppt und verwüstet und ohne einen Halm im Boden, und Vater hatte auf den paar Hektar fremden Landes doch nur geschuftet und geschuftet. Und jetzt quälten sie Vater wegen der Pacht, das Futter für die beiden Ziegen war am Ende und der Wasserwagen kam nicht mehr. So wie damals, als Mutter starb, erinnerte sich Marcelino. Sein Schwesterchen war noch zu klein und wusste nichts davon.
Seit letzter Woche war mit dem Maisbrei Schluss. Der kleine Weiher und die beiden Tümpel, an denen Marcelino immer fischte, waren ausgetrocknet, die Geier hatten die Knochen der letzten Zebus blank genagt und die Erde war so weit aufgerissen, dass der Bub sein Ärmchen bis zum Ellbogen hineinstecken konnte.
Am anderen Morgen, als sie vor dem Ochsenkarren standen, glaubte der Bub, eine Träne in Vaters Auge gesehen zu haben. Doch außer der Mine gab es in der ganzen Gegend nichts, so sehr der Mann auch grübelte. Nur die Zinngrube! Die Kinder sollten doch überleben und nicht dabei sein und mit ansehen müssen, wie alles zu Ende ging, wenn die Glut der Sonne den letzten Tropfen Blut verdampfte und nur noch die Geier über ihren Köpfen kreisten.
»Einen Sack und eine Hacke!«, rief Marcelino. »Schnell, Sonja, schnell! Dann sammeln wir auch!« So wie alle, die er von Stein zu Stein springen sah. Schnell, bevor der Nächste da war und einem den schönsten Brocken vor der Nase wegschnappte. Stöbern, absuchen, finden und aufklauben. Ab sieben war man schon dabei.
Vorgestern hatte es Frederico erwischt. Ein einziges Mal war er nicht flink genug gewesen. Ein einziges Mal hatte er dem stählernen Arm nicht rechtzeitig ausweichen können.
»Wir passen ja auf … mit den Kleinen«, entsetzt sich Reinaldo und dann weint er selbst wie ein Kind. Ein halbes Leben lang fährt er schon Zugmaschine. »Aber manchmal …« Und dann schreit es in ihm und seine Wut bricht durch die Tränen. »Manchmal … wie sollst du wissen, was die Kerlchen grad im Kopf haben?« Für einen Augenblick nimmt er den Helm ab und wischt den Schweiß aus der Stirn. Abgekämpft stapft er zum Wassertank hinüber und dann kraxelt er mit dem AluBecher in der Hand gleich wieder auf seinen Fahrersitz. »Die Kinder dürften doch gar nicht in der Grube sein«, wettert er von der Zugmaschine herunter und legt den Ganghebel ein. Siebzehn ›Requeiros‹ hatten sie dieses Jahr weggetragen. »Siebzehn!« Seine Schreie gehen im hustenden Lärm der Dieselmaschine unter. Baggerschaufeln, Stahlketten, Detonationen nach Steinschlag, Verschüttete. Und Kinder!
Steinschlag, Explosionen, Verschüttete. Und Kinder.
Immer wieder Kinder! In Scharen kamen sie von überall her. Wie sollte man es verhindern? »ZUTRITT VERBOTEN« stand vor der Einfahrt auf der gelbroten Tafel! War das nicht klar genug?
Jenseits des Hanges hatten sie Notquartiere in den Boden gerammt. Blechbaracken, Holzschuppen. Eine Containerbude mit Zuckerschnaps und Bier und eine Handvoll aufgedrehter Mädchen für die Jungen. Meistens schliefen sie im Freien. Es war ja nicht für immer. Und es erwischte nur diejenigen, die nicht genug aufpassten.
Bulldozer … Explosionen … Bagger … Steinschlag? Und wenn schon! Wovor sie sich fürchteten und was manche bis in die Träume verfolgte, das waren ihre Armut und das Elend dort, von wo sie herkamen, und das Unrecht und das Nicht-Weiterwissen. Samantha hatte vor ein paar Jahren ihre beiden Kinder verloren. Und Miguel seinen Arbeitsplatz. Dann war er in die Mine gewandert und Samantha kam hinterher. Nachts schliefen sie im Zelt, das ihnen einer hinterließ, dem es gereicht hatte. Tagsüber wurde in den Steinen gewühlt. Immerhin holte Miguel jeden Monat gute 250 Dollar heraus. Dreimal mehr, als sie ihm in Porto Velho auf dem Bau bezahlten. Und ganz so kompliziert war das hier gar nicht. Die Maschinen zerschlugen doch alles. Man musste nur die besten Brocken kriegen, damit in den Schuppen rennen und das Zeug auf Jaimes Waage schmeißen.
»Kommt in unser Zelt, bevor es Nacht wird«, sagte Samantha zu Marcelino und Klein-Sonja. »Wir haben noch Platz für euch … wenn ihr uns helft?« Dann zeigte sie den Kindern, welche Brocken die guten waren und was sie tun mussten, wenn die Bulldozer hupten, während sie beim Klauben waren.
Daheim wartete Vater auf den Regen. – Zutritt verboten! – Ich zeig euch, wie man’s macht. – Marcelino kroch mit Klein-Sonja über den Schutt. Es war doch nur für ein paar Jahre. Und die Männer unter den roten Helmen passten schließlich auf.
Aber immer konnten sie es nicht verhindern.
RIO, MORGENS UM FÜNF
Heller und klarer als an den anderen Abenden hing der Mond über der See. Mit der klebrigen Hitze war es noch immer nicht besser geworden. Dampf, nichts als heißer beißender Dampf, nass und tonnenschwer, lastete über der Stadt. Nur hier, abseits vom Trubel der Asphaltschluchten, blies lauer Nachtwind über zertrampelten Sand, zaghaft zunächst, so als ob er sich nicht recht getraute.
»Selmiiira… Selmira!« Der Donner gewaltsam aufklatschender Brandung verschluckte die vergeblichen Schreie, die das Mädchen zum Umkehren zwingen sollten. »Selmira! Selmira!« Immer wieder, unablässig, sinnlos im Zorn in die Nacht hinausgestoßen. Zuletzt versuchte der brüllende Verfolger den kleinen Flüchtling mit heiserer, sich gewaltsam überschlagender Stimme zur Umkehr zu bewegen. Doch schneller, als es zu erwarten war, verwehte die Spur, die das davonrennende Kind im Sand hinterließ. Renn, Mädchen, renn! Renn bloß, wenn du keine Dresche willst!
Selmira schnappte nach Luft. Dann verstummte das Gebrüll. Die fiebrigen Augen des Kindes tasteten sich entlang des glitzernden Schaums, den das heranrasende Seewasser auf den Strand warf. Das rassige haselnussbraune Gesicht und die langen unter ausgeblichenen Shorts hin- und hertanzenden Gazellenbeine, das zerzauste, im Schimmer der Mondnacht blauschwarz glänzende Haar,