Kreuzwege unter der Sonne. Mario Monteiro

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Kreuzwege unter der Sonne - Mario Monteiro

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ich ihn in der Buchhaltung einer amerikanischen Gesellschaft unter.

      Samstags ging er Fußball spielen. Wenn er dann heimkam, verschwitzt und entkräftet, wurde er oft nicht mehr mit seinen Tränen fertig. »In Ararapurana haben sie keinen Fußball. Der einzige, den sie haben, ist ganz kaputt.« Darüber kam er nie hinweg. »Wenn sie wenigstens einen guten Ball hätten …«

      Und sie können nicht lesen, sie können ihren Namen nicht schreiben und sie wissen nicht, wo Europa liegt. Wir verloren kein Wort darüber. Wozu auch? Es war mir klar, dass ich ihm Zeit lassen musste. Viel Zeit sogar.

      Eines Morgens, als wir in der Bar an der Ecke unser Frühstück einnahmen, war es so weit. Jere knabberte unlustig an seinem Brötchen und druckste mit etwas herum. Ich war auf etwas Bombastisches gefasst, auf so etwas wie einen Donnerschlag. Hatte sich Jere vielleicht rettungslos verknallt? Oder wollte er ausziehen aus unserer Zweizimmerhöhle, um von nun an allein zu sein? Wenn man lange genug zusammenlebt, spürt man genau, wenn etwas in der Luft liegt. Ich rührte in meinem Kaffee herum. Es kam mir vor, als warte Jere auf den passenden Moment. Oder als ob er nicht wüsste, wie er es sagen sollte.

      Dann, ganz plötzlich, überfiel er mich: »Mario! Ich will zurück. Verstehst du? Zurück nach Ararapurana.«

      »Warum?«, fragte ich leise und wunderte mich, aus welchem Grund es mich nicht schockierte. Warum? Warum schon? Genauso gut hätte ich irgendetwas anderes, etwas furchtbar Belangloses fragen können.

      »Ich werde den Ziegelofen kaufen«, erklärte Jere. »Ich habe Geld gespart.«

      »Du willst die Kinder Ziegel brennen lassen?«

      Meine unüberlegte Frage musste ihm einen Stich gegeben haben. »Nein!«, schrie er entsetzt, sodass der Barmann hinter der Theke zu uns herübersah. »Natürlich nicht! Ich werde bessere Ziegel machen, solche mit Glasur. Die kann ich nach São Paulo schicken, und sie werden teurer sein als die, die sie jetzt in Ararapurana machen. Dann können die Väter Backsteine brennen, und Frico und Beto und Emilio können in die Schule gehen! Ich werde eine neue Schule bauen, aus guten Ziegeln mit roter Glasur. Denk doch mal! Es wird eine schöne Schule werden, die Kinder werden sich freuen und lachen, und alle werden lesen und schreiben lernen. Alle!«

      Ich starrte in meine halb leere Kaffeetasse. Draußen hatte der Nieselregen aufgehört, der Asphalt schillerte grauschwarz und dampfte. Ich weiß nicht mehr, was mich an jenem Morgen zu meinem Entschluss gebracht hatte. Ich weiß nur noch, dass ich auf das Datum meiner Uhr sah. Es war ein 17. April. Der Mann hinter dem Schanktisch erschrak, als ich meine Tasse auf den Tisch knallte. Ich blickte Jere in die Augen. Sie hatten den Glanz der Kindheit verloren.

      »Nach Ararapurana …?« Ich nickte ihm zu und schluckte den Rest der Brühe hinunter. »Nach Ararapurana? Ich fahre mit!« Mehr fiel mir dazu nicht ein. Unsere Zeit in São Paulo war einfach abgelaufen.

      Jere stürzte auf mich zu und umarmte mich. Ich spürte, dass er richtige Muskeln bekommen hatte.

      Eine Woche brauchten wir noch, dann hatten wir aufgeräumt – unsere kleine Wohnung, unsere Jobs, uns selbst. In São Paulo hielten uns alle für verrückt. Und wenn schon! Wir fuhren los.

      Drei Tage und zwei Nächte lang träumten wir vor uns hin, schmiedeten Pläne und waren entschlossen, unser Glück nie mehr aus der Hand zu geben. Nie mehr! Um keinen Preis der Welt!

       ZINNSOLDATEN

      Volle Deckung! Oberhalb der Schutthalde verschwinden zwei Dutzend Köpfe. Knallrote Schutzhelme leuchten in gleißender Sonne. Atemmasken und Brillen in dicken Gummifassungen verdecken angespannte Gesichter. Die Muskeln sind bis zum Zerreißen angespannt. Drüben winken sie mit roten Fahnen. Dann ertönt ein letzter Warnruf aus dem Megafon: »Atensçao … Atensçao … Atensçao!« Die Kette der Explosionen zerbricht minutenlanges Warten. 400 Kilo Dynamit reißen die Felswand auseinander. Schutt schiebt sich über die Halde, Riesenbrocken, grausilbern schillernde Kassiterit-Blöcke donnern in die Tiefe, bleiben dann plötzlich liegen und wälzen sich schließlich weiter, irgendwohin.

      Über dem Abgrund treiben stechend ätzende Wolken, Nebelschwaden in giftigem Graugrün kriechen durch die Schneise und legen sich über das Land. Dann stampfen die Bulldozer wieder. Stoßend und stöhnend schieben sie das Gestein vor sich her, türmen Erz auf Erz, verändern, was Minuten zuvor unveränderlich schien. Titanische Stahlschaufeln schwenken aus, zuerst nach links, dann im Kreisbogen auf Felsen aufschlagend, schließlich steil in den Himmel gereckt als protestierten sie, jammernd und kreischend in Achsen und unter pausenlos rotierenden Ketten, um hochwertiges Zinnerz auf die lange Reihe wartender Kipplaster zu schütten.

      Vor der Zufahrt zur Mine zittert das von glühender Sonne geschundene Tor. Immer zittert es hier, wenn es mit der Wucht der ohrenbetäubenden Schläge und dem Krachen und Stoßen und Stampfen zu viel wird, während sich hundert schürfende Stahlketten ins Gestein fressen und jeden Schrei ersticken.

      »FORTUNA NOVA – ZUTRITT VERBOTEN«

      Unkenntlich wie Schemen im Zwielicht, verhüllt im Staub unter glühender Sonne stehen Männer zwischen den Lkws und einer fast endlos scheinenden Kette aus Erzcontainern. Verstaubte knöchelhohe Stiefel – Männer in Overalls verpackt. Dahinter Spitzhacken, Blechkanister in Kinderhänden. Da und dort haben die kleinen Burschen Bastkörbe und ausgediente Säcke aufgetrieben. Lärmend und schwitzend, mit braunen sonnenversengten Gesichtern umhertobend, oft lachend wie im Spiel und über mannshohe Brocken kletternd, beim Hupen einer unerwartet daherstampfenden Zugmaschine aufschreckend, retten sie sich hundertmal am Tag vor krächzenden Geröllschiebern, flitzen kaum einen halben Meter vor den Giganten auf die andere Seite, um sich in der nächsten Minute auf einen vermeintlich wertvollen Fund zu stürzen. Aufpassen müssen sie und rennen und schuften, wenn es vielleicht schon am Mittag richtig Moos geben soll. Nach jeder Sprengung liegt das Kleinzeug, das die Abraumtrecker nicht erfassen, in der Schlucht herum.

      Cassiterita! Container auf Container. Brasilianisches Zinnoxyd auf dem Weg zum Weltmarkt. Hochprozentig schillert es im gleißenden Licht des unerbittlichen Tropenmorgens. Vor morgen Mittag wird nicht mehr gesprengt. Nur die Bagger werden den Abhang bis zur Unkenntlichkeit zerreißen, stählerne Riesen auf Kettenrädern werden Schuttberge vor sich herschieben und Kinder werden über die Wüste aus Geröll und Steinen kriechen und das verheißungsvolle Zinnoxyd zusammenklauben. Pausenlos. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. FORTUNA NOVA im Zehnstundentakt. 36 Grad im Schatten, brennende Sonne auf nackten Rücken, nicht die Spur einer Wolke am Himmel, Staub im Gesicht und in der blutenden Nase, im Rachen, in den Lungen. Es ist doch nur für ein paar Jahre. Dann werden sie, so Gott will, noch leben, und bis dahin hätten sie eine Menge Geld verdient. So hieß es in der Grube. Fast einen Dollar gab es pro Kilogramm. Vorausgesetzt, dass das Zeug, das sie anschleiften, auch gut genug war, um die Grube zu verlassen.

      In dicken roten Buchstaben stand es über dem Tor des Schuppens, den sich Jaime aus zwei vergessenen Containern zusammengeschraubt hatte. Auch wenn die meisten nicht lesen konnten. 92 Centavos per Kilo! Das verstand jeder.

      Kurz vor zwölf, noch bevor Jaime den Eintopf in seinem verbeulten Blechgeschirr aufwärmte, standen die Kinder in der Schlange und maunzten und kniffen sich und schrien, wer diesmal die besten Brocken habe und wie viel es dafür geben werde.

      Immerhin, es lohne sich doch für die Kerlchen, behauptete Jaime, wenn er abends mit den Fahrern beim Zuckerschnaps hockte. Auch für ihn sei es doch ganz annehmbar. Vier Dollar achtzig bewilligte ihm die Direktion für den Kleinkram. Und wenn das mit den Bürschchen noch ein paar Jahre so liefe, dann werde er das Geld für die beiden Lkws endlich zusammenhaben und aus dem Loch herauskommen. Und droben im Büro dürfe sich auch niemand beklagen.

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