Kreuzwege unter der Sonne. Mario Monteiro

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Kreuzwege unter der Sonne - Mario Monteiro страница 8

Kreuzwege unter der Sonne - Mario Monteiro

Скачать книгу

hin. Nacht für Nacht die gleiche Tour, die gleichen Straßen, kreischende Bremsen, raus aus dem Jeep, schussbereite Waffen im Anschlag und weiter. Immer weiter. In rasender Fahrt über Plätze und durch Gassen, rein in schummrige Löcher, Schlupfwinkel und Kokskeller ausfindig machen, vorbei an lebensgefährlichen Hinterhöfen, pechschwarzen Durchfahrten, an mannshohen Stahlgittern vor den Zementburgen der Reichen. Warnrufe, Hohngelächter, höllisches Echo aus finsteren Ecken, über das Pflaster klatschende Strandsandalen. Noch halbe Kinder schleiften sie jede Nacht auf die Wache. Dort ging es bis zum Morgengrauen mit den Verhören weiter. Wer stur war, kriegte seine Dresche. Mittags musste man die Kerlchen wieder laufen lassen. Schon von alters wegen. Außerdem … wohin mit ihnen? Nur die großen Haie, die ein Heer von Buben und Mädchen, die Hosentaschen voll Koks und Crack, durch die Gegend schickten, kriegten sie nie.

      »Komm schon«, murrte der Fahrer des Jeeps. »Nix mehr los heut Morgen.« Der Motor fing an zu husten. »Merda! Das fehlt uns gerade noch.«

      »Halt mal an«, befahl der Leutnant. »Dort … in der Einfahrt!« Hinter einem halb offenstehenden Hoftor erhoben sich Umrisse des Rohbauskeletts. Haarscharf am Randstein hielt der Jeep. Die Halogenlampe tastete einen Zementpfeiler nach dem anderen ab und verlor sich im schwarzen Hintergrund. Irgendwo wimmerte jemand. Oder war es nur leises Stöhnen, Ausklang einer endlos freudvollen Nacht? Wo war man denn? Also, warum nicht weiterfahren? Nichts wie weiter! In einer halben Stunde war es aus mit dem Dienst.

      »Stopp mal!«

      Der Lichtstrahl traf mitten in das Gesicht. Ein blauschwarzes Kindergesicht, verzerrt, mit dunklen Flecken gleich neben der Nase, zitternde Lippen. Jetzt hielt es die Hand über die verweinten Augen.

      Wieder war sie da, die lähmende Angst, das Nicht-Wissen, wohin, nur Entsetzen pur und Scham und die Mauer, über die man nicht herüberkommt. Wo wohnte die Freiheit? Die Wunde oberhalb des Knies blutete. Warum bloß war sie mitgegangen? Wäre sie nur bei Joshua geblieben …

      Misstrauisch wurde sie angestarrt, von oben bis unten. »Wer war das?«

      Wer sollte es schon gewesen sein? Irgendeiner eben. Selmira schwieg und blickte vor sich hin auf den sandigen Boden, den Rücken an den Betonpfeiler gelehnt.

      »Los, red schon, wo hast du dich rumgetrieben?« Fragend zeigte der Polizist in die Dunkelheit des Rohbaus. Wer weiß, was dort drin mit der Kleinen passiert ist?

      Selmiras Tränen tropften in den Sand. Beim letzten Mal hatte es auch so angefangen. Jetzt werden sie wieder fragen und fragen. Und dann, wenn sie fertig sind, werden sie mit ihr hinauffahren und sie abliefern, und sie wird wieder vor ihrem Vater stehen. Wieder und wieder. Immer wieder. »Nein, bitte … bitte nicht. Nicht nach Hause!«

      Die Polizisten hörten es nicht. Wozu auch? Es war kurz nach fünf, um sechs war es mit dem Nachtdienst aus. »Setz sie hinten rein und fahr los!«

      Hinter der nächsten Querstraße stotterte der Motor zum zweiten Mal. Dann stand die Kiste. Endgültig und definitiv. Im Schein der Taschenlampe sahen sie Öl auf den Boden tropfen. »Ein Liter ist mal weg. Mindestens.« Das Wasser im Kühler kochte. »Merda maldita!«

      »Das hast du jetzt schon zum zweiten Mal gesagt.«

      Der Fahrer hörte es nicht. Vielleicht war der Motor endgültig im Eimer. Selmira weinte leise vor sich hin.

      Jenseits knarrte ein Fenster. Der keuchende Atem der Frau war bis hierher zu hören. Für Sekunden zeigten sich fleischige Arme auf dem Fensterbrett. Neugierig belauschte sie das Gespräch in dem verlassenen Sträßchen und rückte dabei ihre Brille zurecht. Nachdem sie das Fenster geschlossen hatte, verlosch das Licht in der Stube.

      »So früh schon auf den Beinen?«, rief der Leutnant.

      Armanda sicherte sich am Handlauf der Treppe und tappte wortlos hinunter. »Was ist mit der Kleinen?«, fragte sie mit einem Blick auf den Jeep.

      »Immer schön neugierig, hm! Was soll schon mit ihr sein? Ausgerissen wahrscheinlich und durch die Gegend zigeunert. So wie alle!«

      »So wie alle?« Mit einem Zipfel der Schürze putzte Armanda ihre Brille. »So wie alle«, wiederholte sie leise und besah sich die Flecken in Selmiras Gesicht.

      »Das Dingchen da kommt mit«, murrte der Offizier. »Auf die Wache. Sobald die Kiste wieder okay ist.« In einer Stunde sei es aus mit dem Dienst, wurde Armanda informiert. »Aus, fertig.« Er gähnte auf den Asphalt, auf dem sich der Frühnebel niedergelassen hatte.

      Der Fahrer zerrte eine Dose Motorenöl unter dem Rücksitz hervor. »Na ja. Bis zum Amt dürften wir noch kommen«, hoffte er. »Dann werden wir weitersehen.«

      »Trinkt erst mal eine Tasse Kaffee. Wird euch guttun«, meinte Armanda. Mit ihrem krummen Daumen zeigte sie auf die Treppe. »Und lasst mir die Kleine nicht im Wagen.«

      »Wir müssen auf die Wache.« Der Fahrer klappte das Handy auf.

      »Besteira!« Der Leutnant hatte den Geruch heißen Kaffees in der Nase und nahm seinem Fahrer das Handy weg.

      Selmira kletterte heulend aus dem Jeep. Treppauf zerrte der Leutnant das Kind hinter sich her und orientierte sich am Gekeuche der dicken Frau, bis er die Haustür aufspringen hörte. Armanda schaltete das spärliche Licht des Lämpchens ein, das neben dem leise tönenden Radio auf einer altmodischen Truhe stand. »Sie schlafen nur mit Musik«, flüsterte sie. »Immer wollen sie Musik hören.« Ihr Blick lag besorgt auf den Mädchen, die quer übereinander mit angezogenen Beinen auf dem Sofa lagen. »Die Buben stecken dort«, sagte sie achselzuckend und zeigte unter den Tisch, wo zwei Jungen, bis an die Köpfe in Decken gehüllt, auf einer durchgescheuerten Matratze lagen. Armanda lächelte eine Entschuldigung heraus. »So viele Betten hab ich nicht … schade. Ihr wisst schon, so einfach ist’s nicht, in dieser Zeit.«

      Mit einem nicht unfreundlichen »Kommt doch mit« tappte sie voraus in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen. Zwischen zerbrochenen Kacheln, notdürftig mit Zement verkittet, hingen Kapuzenpullis und Nylonjacken an eisernen Haken. Tipptopp, stellte der Leutnant nach einem Blick auf den blank gescheuerten Küchenboden fest.

      »Die Mädchen helfen ein bisschen und die Buben werkeln hinten im Gemüsegärtchen. Anders geht es doch nicht.«

      Aus der Ecke zog ein angenehmer Geruch von frisch gebackenem Brot herüber. Zwei kleine Mulatten hatten sich die Nacht über Kopf an Kopf auf einem Notbett eingerichtet. Im Schimmer des heraufkommenden Tages vertieften sich die Falten im Gesicht der Frau.

      »Alles Ihre Kinder?«, zweifelte der Polizeioffizier.

      Armanda schenkte Kaffee ein und dachte über die seltsame Frage nach. Was sollte sie ihm antworten? »Unsere Kinder sind das«, sagte sie bestimmt und starrte ihn an, während kochendes Wasser durch den Kaffeefilter floss. »Unsere Kinder sind das, Leutnant! Unsere Kinder von Rio.« Immer wiederholte sie es. »Unsere Kinder«, und dabei zuckte sie mit den Achseln, schwatzte vor sich hin und lief schließlich auf den engen Gang hinaus, um nach etwas zu suchen.

      »Hast du’s gehört?«, fragte der Beamte und nippte an der Tasse. »›Kinder von Rio‹ hat sie gesagt.«

      »Eigentlich … wenn du’s so siehst …«

      Draußen auf dem Gang murrte Armanda vor sich hin. »Sie haben sie vergessen und einfach stehen lassen. Stehen lassen wie einen alten Stuhl.«

      Selmira lehnte an der gekachelten Wand neben der Feuerstelle und stopfte sich ein Stück Brot in den Mund.

Скачать книгу