Kreuzwege unter der Sonne. Mario Monteiro

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Kreuzwege unter der Sonne - Mario Monteiro

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oft schon war sie den engen Pfad durch die Favela hinunter zum Meer gehetzt und dann nach dort, wo sie die Freiheit vermutete. Freiheit! Irgendwo musste die Freiheit wohnen! Doch bis jetzt hatten sie die Kleine immer wieder zurückgebracht. Und jedes Mal tanzte der Lederriemen auf ihrem Rücken. Sogar an den Dachpfosten hatte sie Vater schon gebunden. »Dass du es lernst«, hatte er die halbe Nacht lang auf sie eingeschrien und immer wieder zugeschlagen.

      Joana hatte es doch viel besser. Selmira hielt an und sah zurück. Wie war sie denn mitten in dieser Hetze ausgerechnet auf ihre Freundin gekommen? Joana sah natürlich viel älter aus und konnte auch so raffiniert lachen, und jeden Abend brachte sie genug Geld nach Hause. Letztes Jahr hatten sie sich drüben sogar einen neuen Kühlschrank anschaffen können. Außerdem hatte ihre Freundin einen ganz vernünftigen Vater. Und Andreia erst. Nur eifersüchtig war sie bis zum Gehtnichtmehr. Deshalb schlug sie sich dauernd mit Jacobine herum. Jacobine mit ihrem Engelsnäschen.

      Selmira atmete durch. Um diese Zeit hockten die Freundinnen wieder oben vor den Hütten und erzählten sich die seltsamsten Geschichtchen. Nur Selmira rannte wieder am Strand entlang. Ewig und immer den gleichen Weg, kilometerweit, irgendwohin. Nach nirgendwohin! Nur nicht mehr dort hinauf in die Favela, jenseits des steilen Abhangs, an dem die Baracken und Buden Wand an Wand nebeneinanderstanden, die meisten nur lose ins Erdreich geschoben, bis sie vielleicht in einer dunklen Regennacht, wenn niemand damit rechnete, von Wassermassen und unter Bergen von Schlamm und Morast in die Tiefe gerissen würden.

      Nur weg von dort! Weg, weit weg. Immer wieder riss Selmira aus. Flucht von klein auf. Flucht und Angst. Grenzenlose Angst! Angst! Angst! Angst! Angst vor den schrecklichen Prügeln des jähzornigen Mannes, bebende Angst vor dem heißen Bügeleisen, vor bösen giftigen Blicken, wenn sie geduckt vor der frostigen Ziehmutter stand, weil sie nicht genug Geld zusammengebettelt hatte und weil keine Milch für die Brüderchen da war und weil Vater die paar Kröten, die am Morgen noch in der Schublade gelegen hatten, beim Zuckerschnapstrinken verpulvert hatte.

      Selmira presste die Lippen zusammen. Pause machen! Durchatmen! Wenigstens schrie hier niemand mehr hinter ihr her. Irgendwo musste die Freiheit wohnen. Vielleicht dort drüben, mitten im Gewühl der lachenden Straßenbummler, sich mit einem Eis in der Hand umarmend. Zwanzig-, dreißigstöckige Luxuswohnungen, lichtüberflutete Garageneinfahrten. Avenida Atlantica! Luxuswagen, teures Blech bis hinunter nach Ipanema. Tanzmusik, ohrenbetäubende Lust, gellend schreiende Autohupen, Strandläufer, sich anbellende umherstreunende Hunde, im Sand kichernde Liebespaare. Da und dort gleichmäßiges Tapsen. Dazwischen das Geschrei der Kinder, die sich wegen eines Stückes weggeworfenen Brotes vor randvollen Abfalltonnen in den Haaren lagen.

      »Träume in Rio!« Ein knallig angezogener Arbeitsloser, auf zwei Meter hohen Stelzen staksend, mit einem mannshohen Plakat auf dem Rücken brüllte es im Dreißigsekundentakt in die Ohren der Touristen, dann und wann mit den Händen zum Kopf hinauffahrend, besorgt, den blauroten Riesenzylinder zu verlieren. Träume in Rio! Nacht für Nacht sollte das aufkratzende Gebrüll der lebenden Reklamefigur gegen pfeifende Reifen ankommen, gegen Hupen und Tanzmusik, um vielleicht eine Handvoll abenteuerlustiger Touristen in das Vergnügungslokal an der Ecke zu locken.

      Freiheit! Selmira flitzte zwischen zwei Stoßstangen hindurch, über die Avenida und gleich in die nachtschwarze Querstraße hinein. Keine hundert Meter mehr, dann kann sie wieder vor Joshuas Obstbude stehen. Joshua war okay! Gierig starrten Sechzehnjährige ihr hinterher. Joshua winkte ihr zu. Schnell, lauf zu, Mädchen, konnte das nur heißen.

      Sein ›Laden‹, wie Joshua die sechs Pfosten mit der darüberhängenden Zeltplane mit verschmitzt fröhlichem Grinsen gerne bezeichnete, war gerade stabil genug, um häufige Windstöße, die das Meer herüberschickte, abzufangen und die Petroleumlampe zu halten, die der alte Mann an einem der Pfosten befestigt hatte. Seit Joshua seine Frau verloren hatte, war es mit dem Obstgeschäft nicht mehr weit her, und auch sonst stand er ziemlich allein in der Welt. Von sieben Buben waren noch drei am Leben. Doch sie hatten sich in dem großen Land zerstreut und Joshua wusste nicht recht, wohin es sie verschlagen hatte. Wo sollte er sie denn suchen? Außerdem – wenn er ganz ehrlich sein wollte – war es ihm nie in den Sinn gekommen, die Stadt zu verlassen. Wo hätte er denn hingehen können? Er verkaufte doch sein Obst. War das nicht gut genug? Und er war so glücklich, wenn Selmira zu ihm kam und ein paar Stunden bei ihm blieb. Meistens hockte das Kind auf einer umgestülpten Kiste und stopfte sich eine halbwegs essbare Banane in den Mund.

      »Joshua! Deine Bananen sind schon wieder schwarz. Es wird nicht leicht sein, sie noch loszuwerden!«

      »Ich weiß, ich weiß schon.«

      Der alte Mann musste sich das alles gründlich überlegen. Mit schläfrigen Augen ließ er die paar Reais, die er tagsüber eingenommen hatte, durch seine Finger gleiten. Ob er dafür auf dem Frühmarkt noch genauso viel bekommen würde? Blieb dann doch noch ein später Käufer vor seiner Obstbude stehen, so wurde er meistens von Selmira bedient. Wenn es Nacht in Rio wurde, dann kauften sie lieber von ihr.

      Joshua wühlte in den Kisten. Die Angefaulten mussten raus. Kurz vor elf kam Angelica vorbei und nahm den Kram mit. Was sie damit wohl anstellen mag?, fragte er sich, während er den Inhalt seiner Tageskasse immer wieder zählte und das Päckchen zerfledderter Scheine schließlich in einem halbvollen Sack versteckte, in dem er gewöhnlich Trockenobst verwahrte. Er musste sich vor den Jungen, die sich jede Nacht zusammenrotteten, durch die Straßen rannten und kleine Händler und wehrlose Frauen ausraubten, hüten. Was konnte man tun? Eigentlich war ihm nie etwas anderes eingefallen, als zwei, drei Scheine und etliche Münzen geringen Wertes neben der Waage liegen zu lassen. Die rissen sie dann jedes Mal herunter und weg waren sie.

      Lange genug hatte der alte Mann an seinen Trick geglaubt. Bis sie ihn eines Nachts vermöbelten, auf seine Knie traten und in seine Ohren brüllten: »Los, Opa! Wo ist der Zaster?« Dann schlugen sie immer wieder auf ihn ein. Woher sollte Joshua denn wissen, ob sie in der nächsten Nacht wiederkamen?

      »Es geht immer blitzschnell«, fügte er sich. »Und die paar Leutchen, die dann noch vorbeilaufen … die helfen mir doch nicht. Die gucken nur zu, werfen höchstens die Hände in die Luft und laufen schnell weg.« Joshua schüttelte den Kopf. »Es geht so schnell … immer so schnell.« Nie habe ihm einer geholfen, jammerte er. »Manche lachen sogar. Hier lachen sie immer«, behauptet er aus Erfahrung. Auch wenn es gar nichts zu lachen gebe. Und dann, ganz plötzlich, lacht er selber. Warum sollte er nicht lachen? »Zahlt man dafür vielleicht Steuer?«

      Im Übrigen: Wer wisse schon, was uns der nächste Tag bringen wird? Für ihn liege nicht mehr viel drin, glaubte Joshua im Stillen. Sein Bauch wurde in letzter Zeit so dick. Obwohl er gar keinen Appetit mehr hatte und die Kisten kaum noch heben konnte. Vielleicht, weil seine Arme abgemagert waren und weil er so schnaufen musste, bevor es wieder weiterging.

      Nachdenklich betrachtete er den Betrunkenen, der vor sich hinlallte und an den Obstkisten vorbeitorkelte. Weit wird der Bursche nicht mehr kommen, vermutete Joshua. Und Bananen wird er auch nicht kaufen. Umfallen wird er. Einfach umfallen und liegen bleiben und nicht einmal mehr den Wind spüren, der nachts von der See herüberbläst.

      »Selmira!« Er wollte sie doch so lange schon danach fragen … Joshua starrte die Kiste an, auf der das Mädchen gerade noch gesessen hatte.

      »Puxa!« Der Blonde kaufte also doch keine Bananen. Er wollte nur Selmira haben.

      Eine glasklare Träne versickerte in dem Gesicht des alten Mannes. Warum bloß ist sie weggelaufen? Ängstlich löschte Joshua die Petroleumlampe und legte sich auf das Bündel leerer Säcke.

      Das Getrappel kam aus der Nebenstraße. »Polícia, Polícia!« Schüsse, ein einzelner gellender Schrei, dann ein Körper, der über den Abflusskanal stürzte, und die Sirene eines Bereitschaftswagens, der durch die Straße heulte. Im Morgengrauen veranstalteten sie den Sturm auf die Disko. Dann stopften sie ein

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