Das Enneagramm. Andreas Ebert W.
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Paulus selbst und der Evangelist Johannes haben in ihren Schriften Vorstellungen und Bilder der gängigen griechischen Religionsphilosophie übernommen und „getauft“.2 So beschreibt Johannes Christus als den inkarnierten Logos (Johannes 1). Die Vorstellung vom Logos besagte, dass es eine Art Weltvernunft gibt, die hinter allem Sichtbaren steht und in allem waltet. Logos bezeichnet ziemlich genau das, was Esoteriker „höheres Bewusstsein“ nennen. Johannes scheut sich nicht, diesen damals „esoterisch vorbelasteten“ Begriff zu übernehmen. Er besetzt ihn neu und erklärt so seinen ZeitgenossInnen das Evangelium in sprachlichen Kategorien, die sie verstehen.
Im Christentum wird die Erlösung vom falschen Ich als Gnadengeschenk Gottes verstanden; umstritten ist, inwieweit der Mensch sich selbst vorbereiten, disponieren, öffnen oder auf diese Gnade einstellen kann. Dieses Problem wird meist so gelöst, dass gesagt wird: Der Mensch soll so tun, als hinge alles von ihm ab. Im Nachhinein wird er verstehen, dass Gottes Geist es war und nicht er selbst, der ihn motiviert und befähigt hat zu suchen, zu kämpfen und zu beten („vorlaufende Gnade“). Paulus hat dieses unauflösbare Ineinander und Miteinander von eigenem Kampf und Gottes Gnade formuliert: „Arbeitet an eurer Erlösung mit Furcht und Zittern! Denn Gott ist es, der in seiner Gnade beides in euch bewirkt: das Wollen und das Vollbringen.“ (Philipper 2,12 f.).
In den östlichen Religionen wird der Anteil des Menschen an seiner Erlösung stärker betont, obwohl der Aspekt der Gnade – zum Beispiel im Buddhismus – durchaus vorhanden ist. Die pauschale Behauptung vieler ChristInnen, die östlichen Wege seien nichts als Selbsterlösung, zeugt von grober Unkenntnis. ChristInnen neigen dazu, sehr vollmundig von der allein wirksamen Gnade zu reden, suchenden Menschen aber eine Antwort schuldig zu bleiben, wenn sie nach Wegen fragen, wie sie diese lebensverändernde und erlösende Gnade erfahren können. Heute berichten viele Menschen davon, dass Wege des Ostens ihnen geholfen haben, ihren verschütteten Glauben neu zu entdecken oder ihr Gebetsleben zu vertiefen. Seriöse spirituelle LehrerInnen des Ostens wie der Dalai Lama verweisen ihre Adepten an die eigene christliche Tradition zurück. Viele müssen erst Umwege machen, um dann staunend zu entdecken, dass es auch in der christlichen Tradition all das zu entdecken gibt, was östliche Weisheit lehrt.
Übrigens hat die Kirche zu allen Zeiten außerchristliche Sichtweisen „getauft“: Im 20. Jahrhundert waren es vor allem humanwissenschaftliche Erkenntnisse, die sich zum Verstehen innerseelischer (und gesellschaftlicher) Vorgänge als hilfreich erwiesen haben. Schon 1927 hat der konservative norwegische Theologe Ole Hallesby die Vorstellung des griechischen Arztes und Philosophen Hippokrates von den vier Temperamenten aufgegriffen und für die christliche Seelsorge fruchtbar gemacht.3 In den letzten Jahrzehnten wurden Fritz Riemanns „Grundformen der Angst“4 von der christlichen Seelsorge rezipiert, obwohl Riemanns Beschreibung von vier Angsttypen auf astrologischen Vorstellungen aufbaut. Trotz ihrer nichtchristlichen Herkunft haben sich solche Modelle als hilfreiche Werkzeuge der Seelsorge erwiesen. Umso mehr gilt das für das Enneagramm, das genuin christliche Wurzeln hat.
Am Ende der Bibel malt der Seher Johannes das Bild des neuen Jerusalems, der zukünftigen Gottesstadt. In diesem Zusammenhang schildert er, wie die Völker der Erde ihre Gaben in diese Stadt bringen (Offenbarung 21,26). Dieses Bild besagt, dass alles, was in den Gedanken und Erfahrungen der Völker und Religionen wertvoll ist, dem einen Gott gehört. Wir können diese Gaben dankbar in Anspruch nehmen. Der Weisheitstransfer zwischen den Religionen ist einer der wesentlichsten Beiträge zum Weltfrieden.
Ich glaube, dass uns das Enneagramm helfen kann, zu einer tieferen und echteren Gottesbeziehung zu finden. Wer Augen hat, kann in ihm zugleich das eigene Angesicht, das Angesicht Gottes und – wie auf einer Ikone – das Angesicht Christi entdecken. Paulus schreibt: „Der Herr ist der Geist; und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Wir aber schauen mit unverhülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel und werden dadurch in sein Bild verwandelt von einer Herrlichkeit zur andern, wie es vom Herrn des Geistes gegeben wird“ (2. Korinther 3,17 f.).
Als Spiegel der Seele bleibt das Enneagramm ein Werkzeug, das irgendwann beiseitegelegt werden kann. Das Enneagramm ist ein Wegweiser. Wegweiser zeigen den Weg; gehen aber müssen wir selbst. Es freut mich, dass in den letzten 20 Jahren – soweit mir bekannt ist – niemand der Versuchung erlegen ist, das Enneagramm zu einer neuen absoluten Heilslehre hochzustilisieren oder Enneagrammzirkel mit Sektencharakter ins Leben zu rufen. Denn auch das Enneagramm ist nur ein Erkenntnismodell – wenn auch ein erstaunlich umfassendes. Unser Erkennen aber bleibt zeitlebens „Stückwerk“, wie Paulus sagt (1. Korinther 13). Bis Gott uns und die Welt vollendet, ist es ratsam, das zu erkennen und zu tun, was sich erkennen und tun lässt – und den Rest Gott zu überlassen.
München, Frühjahr 2009
Andreas Ebert
Erster Teil DER SCHLAFENDE RIESE
Eine dynamische Typologie
Das Enneagramm ist eine Typenlehre, die sehr alte Wurzeln hat und neun verschiedene Charaktere beschreibt. Die vergröbernde Reduktion menschlichen Verhaltens auf eine begrenzte Anzahl von Charaktertypen hat es mit vielen anderen Typologien gemeinsam:
Die Astrologie beschreibt zwölf Menschentypen entsprechend dem Tierkreiszeichen, in dem sich die Sonne während der Geburt befindet. Der griechische Arzt Hippokrates (gestorben 377 v. Chr.) hat seine vier Temperamente (sanguinisch, melancholisch, cholerisch, phlegmatisch) auf verschiedene „Körpersäfte“ (Blut, schwarze Galle, Galle, Schleim) zurückgeführt. In unserem Jahrhundert hat Ernst Kretschmer (1888 – 1964) den Zusammenhang zwischen dem Körperbau und der Neigung zu bestimmten seelischen Leiden untersucht. Er unterscheidet 1. pyknische (untersetzte), 2. leptosome (dünne) und 3. athletische Körpertypen und ordnet ihnen 1. zyklothyme (Neigung zu manisch-depressiver Erkrankung), 2. schizothyme (Neigung zur Schizophrenie) und 3. visköse (Neigung zur Epilepsie) Charakterzüge zu. Carl Gustav Jung (1875 – 1961) geht davon aus, dass es drei Funktionspaare gibt, die bei jedem Menschen unterschiedlich akzentuiert sind: Extraversion – Introversion; Empfinden (sinnliche Wahrnehmung) – Intuition; Denken – Fühlen. Jeder Mensch bevorzugt jeweils eine der beiden Möglichkeiten; daraus ergeben sich acht mögliche Kombinationen oder Typen, zum Beispiel der extravertiert-intuitive Denker oder der introvertiert-empfindsame Fühler. Die Amerikanerin Isabel Briggs Myers hat ein weiteres Funktionspaar hinzugefügt (judging – perceiving, das heißt, Neigung zu schnellen, klaren Urteilen und Entscheidungen gegenüber Empfänglichkeit für viele Einflüsse und Informationen) und in Anlehnung an Jung den Myers-Briggs Type Indicator entwickelt, einen Test, der 16 Typen unterscheidet; in den USA ist er sehr verbreitet.1 Karen Horney (1885 – 1952) diagnostizierte ursprünglich drei unterschiedliche Arten, wie Menschen ihre Lebensangst zu bewältigen versuchen: Unterwerfung (Hinwendung zu anderen Menschen); Feindseligkeit (Aggression gegen andere); Rückzug (Isolation von anderen). Später entwickelte sie ein Modell, in dem sie vier Hauptweisen aufzeigte, durch die Menschen versuchen, sich gegen ihre Grundangst zu schützen: Liebe, Unterwürfigkeit, Macht und Distanzierung. Dieses letzte Modell entspricht in etwa dem Schema, das der Psychoanalytiker und Astrologe Fritz Riemann (1902 – 1979) formuliert hat. Er geht von vier menschlichen Grundängsten aus: 1. Angst vor Nähe, 2. Angst vor Distanz, 3. Angst vor Veränderung, 4. Angst vor Beständigkeit. Daraus ergeben sich vier Grundtypen: der schizoide, depressive, zwanghafte und hysterische.2
Alle diese Modelle versuchen – unter verschiedenen Voraussetzungen – der Erfahrung Rechnung zu tragen, dass die Menschen zwar verschieden sind, dass es aber zugleich „Typen“ gibt, die sich auffallend ähneln. Jede der erwähnten Typologien lässt sich mit einer Landkarte vergleichen, die das Ziel hat, den Überblick über das Reich der menschlichen Charaktertendenzen und Verhaltensweisen zu erleichtern. Wie es Landkarten