Das Enneagramm. Andreas Ebert W.
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Eine dritte Möglichkeit sieht Evagrius darin, die gesamte Zahl 153 als „Dreieck“ zu interpretieren (1 + 2 + 3 + … 17). Das könnte man graphisch als gleichseitiges Dreieck mit der Seitenlänge 17 (Punkte) darstellen:
Zusammenfassend kann man sagen: Evagrius hat eine Charakterpsychologie entwickelt, die auf acht bzw. neun „Gedanken“ oder Leidenschaften basierte. Gleichzeitig hat er eine Kosmologie entworfen, die durch eine Kombination von Kreis, Dreieck, Viereck und Sechseck symbolisch dargestellt werden kann. Es gibt allerdings keinen Hinweis darauf, dass Evagrius selbst seine Leidenschaftslehre und das kosmische Symbol miteinander verquickt hätte. Das Enneagramm der Fixierungen dürfte eine Neuschöpfung Oscar Ichazos aus dem 20. Jahrhundert sein. Es wäre also abwegig zu behaupten, das Enneagramm, so wie wir es kennen, ginge als solches auf die Wüstenväter zurück. Richtig ist jedoch, dass sich die zwei wichtigsten Elemente moderner Enneagrammkunde (kosmisches Prozesssymbol, das – neben dem Quadrat – Dreieck, Kreis und Sechseck enthält, plus eine Charakterlehre, die auf den „Hauptleidenschaften“ basiert und sie den drei Zentren Körper, Seele und Geist zuordnet) unmittelbar auf Evagrius, diesen großen frühchristlichen Welt- und Seelenkenner, zurückführen lassen.
Eine zweite große christliche Gestalt, deren Werk entscheidende Aspekte moderner Enneagrammkunde vorwegnimmt, ist der seliggesprochene Ramon Lull, der 1232 in Palma (Mallorca) geboren wurde.
Ramon, dessen Vater 1229 mit Jakob I. auf die Insel gekommen war, um sie von muslimischer Herrschaft zu befreien, wuchs in einer Umgebung auf, die stark maurisch geprägt war. Er heiratete 1253, wurde Hofpage, führte ein sehr „verweltlichtes“ Leben und unternahm in seiner politischen Funktion zahlreiche Reisen. Im Juni 1263 erlebt der 34-Jährige aufgrund von fünf Erscheinungen des gekreuzigten Christus eine tief greifende Bekehrung. Er wird Mitglied des 3. Ordens der Franziskaner, der für Verheiratete offen ist. Fortan sieht Lull seine Aufgabe darin, Argumente für das Christentum zu sammeln, um so zur Bekehrung von Juden und Muslimen beitragen zu können. Er begibt sich auf Pilgerreisen (Jerusalem und Santiago de Compostela) und entfaltet eine rege literarische Produktivität. Unter anderem regt er die Errichtung von Sprachschulen für das Arabische und Hebräische an, um Grundlagen für einen seriösen interreligiösen Dialog zu schaffen.
Im Gegensatz zu früheren missionarischen Ambitionen der Kirche, die letztlich der Zwangsbekehrung der „Heiden“ dienten, entwickelt Lull Prinzipien eines respektvoll und rational geführten Dialogs, in dessen Verlauf alle Beteiligten dazulernen. Die eigene Identität kann letztlich nicht in Abgrenzung von anderen gefunden werden, sondern nur im Gespräch mit ihnen. Lull nimmt wesentliche Kriterien moderner Kommunikationstheorien und der Friedens- und Konfliktforschung vorweg und entwickelt das, was man heute eine „Hermeneutik des Anderen“ nennen würde: Um mit einem anderen wirklich zu kommunizieren, muss ich seine Sprache und seine Voraussetzungen kennen und achten.
„Das Buch vom Heiden und den drei Weisen“ schildert das Gespräch eines religiös suchenden Heiden mit einem Juden, einem Christen und einem Muslim. Alle tragen ihre Argumente nacheinander vor, ohne einander zu unterbrechen oder anzugreifen. Nur dem Suchenden sind kritische Nachfragen gestattet. Am Ende geht der „Heide“ getröstet davon und es bleibt – wie in Lessings „Ringparabel“ – offen, für welchen der drei Wege er sich letztlich entscheidet.
Lulls Leidenschaft gilt der Suche nach einer neuen Sprache der Spiritualität, die von keiner der bestehenden Religionen besetzt ist. Denn er ist überzeugt davon, dass die interreligiöse Sprachverwirrung eine der Hauptursachen für Kriege und Konflikte ist. Wie Hans Küng in unseren Tagen hält er insbesondere die monotheistischen Religionen für fähig, ein gemeinsames Weltethos zu entwickeln, das dem Frieden dient. Das setzt aber voraus, dass sie im Umgang miteinander jene gewaltfreien Prinzipien praktizieren, die allein Grundlage des Völkerfriedens sein könnten. Insbesondere für die Kirche gilt: Bevor sie die Welt evangelisieren kann, bedarf sie der eigenen Bekehrung und Erneuerung; sie muss das leben, was sie lehrt, und bleibt in diesem Prozess immer auch Lernende.
Ausgangspunkt für die gemeinsame Wahrheitssuche der großen Religionen sind für Lull die neun (!) Namen oder Eigenschaften Gottes, die er auf der Peripherie seiner Kreisfigur „A“ im Uhrzeigersinn anordnet, wobei „A“ für Gottes Wesen steht, während die neun Eigenschaften die Anfangsbuchstaben von B bis K tragen. Sie sind mit der Mitte, dem unaussprechlichen Geheimnis Gottes, und untereinander vernetzt. (Figur A)
Daneben entwickelt Lull eine zweite Figur (T), die neben den absoluten Prinzipien der Figur A „relative“ Prinzipien bezeichnet. Sie sollen „sowohl die Nähe als auch den Unterschied zwischen Gott und den Geschöpfen bezeichnen“. Lull spricht „von Unterschied (differentia), Eintracht (concordia), Gegensätzlichkeit (contrietas). Weil der Vollkommene jenseits eines geschöpflichen Mehr oder Weniger in absoluter Gleichheit existiert, spricht er von Größer-Sein (maioritas), Gleichheit (aequalitas), Kleiner-Sein (minoritas). Und da es nur in der Schöpfung Anfang und Ende gibt, Gott aber die Mitte von allem darstellt, in der Anfang, Mitte und Ende als dreieinige Personen koinzidieren, spricht Lull von Anfang (principium), Mitte (medium) und Ende (finis)“7. Figur T ist ein Kreis, der mit drei Dreiecken ausgefüllt ist, die die relativen Prinzipien bezeichnen. (Figur T)
Lulls Figur T
Die Nähe dieser beiden Figuren zur Enneagrammfigur ist unverkennbar. Ähnlich wie die Figuren des Evagrius könnte man auch Lulls Schemata als „Vor-Enneagramm“ bezeichnen. Lull glaubt ferner, dass nicht nur die Gottesnamen eine gemeinsame Dialoggrundlage zwischen den Religionen sein könnten. Auch das Erkennen der „Tugenden“ und „Laster“ ist gemeinreligiöses Gut. Er bildet die klassischen sieben Tugenden und Todsünden als Bäume ab und meint, diejenige Religion habe Recht, die die überzeugendsten Tugendfrüchte hervorbringt. Damit verlagert sich der Wettstreit von der dogmatischen auf die spirituelle und ethische Ebene und die Toleranzfähigkeit innerhalb des Wettstreits wird zu einem wesentlichen Kriterium der Glaubwürdigkeit und des Wertes einer Glaubensgemeinschaft. Wer Recht hat, muss nicht rechthaberisch sein.
Lulls Nähe zur jüdischen Kabbala und zur islamischen Sufimystik ist mit Händen zu greifen. Die Kabbala stellt die Eigenschaften Gottes wie Lull als Lebensbaum dar; der Sufismus meditiert die 99 Namen Gottes, um durch die Meditation dem unaussprechlichen Gott selbst immer näher zu kommen. Lulls besondere Liebe gilt jenen Sufigeschichten, deren Absicht es ist, die Liebe zu Gott anzufachen. Nur eine Philosophie der Liebe, so glaubt Lull, ist allen Menschen zugänglich und ermöglicht eine interreligiöse Ökumene. Umberto Eco meint, Lulls Entwürfe seien neben der jüdischen Kabbala der zweite große europäische Versuch, eine gemeinsame neue spirituelle Sprache zu finden.
Lull ist zutiefst davon überzeugt, dass selbst schwierigste theologische Behauptungen wie die Lehre vom dreieinigen Gott oder der Glaube an die Auferstehung vernünftig begründbar und daher in Freimut diskutierbar sind. Damit nimmt er die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts vorweg, die der Vernunft einen Vorrang vor der Autorität einräumte.
Es würde sich lohnen, Lulls Bedeutung für die Enneagrammforschung tiefer zu ergründen. Jedenfalls findet sich bei ihm (ebenso wie bei Evagrius) im Kern bereits vieles von dem, was wir im Folgenden entfalten wollen. Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz haben Lull ebenso geschätzt wie Bartolomé de las Casas, der leidenschaftliche