Das Enneagramm. Andreas Ebert W.

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Das Enneagramm - Andreas Ebert W. страница 6

Das Enneagramm - Andreas Ebert W.

Скачать книгу

und spirituelle Meister aus Samos (ca. 569 – 496 v. Chr.). Er war als junger Mann Priester geworden und hatte lange Jahre in den großen religiösen Zentren seiner Zeit, insbesondere in Ägypten und Babylonien, zugebracht. Am Ende seines langen Lebens gründete er in Süditalien eine Weisheitsschule, die in eine „exoterische“ und eine „esoterische“ Abteilung gegliedert war. In der exoterischen Schule wurde Lebensweisheit für jedermann gelehrt; in der esoterischen Abteilung wurden die Adepten in die geheimen Zusammenhänge des Kosmos eingeweiht, über die sie strengstes Stillschweigen bewahren mussten. Eine entscheidende Rolle im Weltbild des Pythagoras spielten – wie in der späteren jüdischen Kabbala – die Zahlen von eins bis neun, während die Zahl zehn den Kosmos als Ganzen bezeichnete. Diese Zahlen hatten für Pythagoras sowohl eine quantitative Bedeutung als auch einen qualitativen, symbolischen Sinn, der in der Antike weithin Common Sense war, von uns aber mühsam entschlüsselt werden muss.

      Nun klafft in der Legende eine Zeitspanne von 1000 Jahren. Es handelt sich immerhin um jene geschichtlich bedeutenden 1000 Jahre, in denen das Römische Reich aufstieg und unterging und in denen das Christentum entstand, zunächst verfolgt wurde und sich schließlich als Staatsreligion etablierte.

      Nach dem Entstehen des Islam (etwa 1000 Jahre nach Pythagoras) – so die bisherige Legende weiter – sei das alte Geheimwissen insbesondere durch eine Sufischule aufbewahrt, entwickelt und tradiert worden. Der „Sufismus“ bezeichnet die große mystisch-asketische Bewegung innerhalb des Islam. Die Sufimeister hätten das Enneagramm nie als Ganzes weitergegeben, sondern einer/​einem Ratsuchenden jeweils nur diejenigen Teile offenbart, die für die spirituelle Entwicklung dieses Menschen nützlich gewesen seien. In der gesamten sufistischen Literatur findet sich allerdings nicht der leiseste Hinweis auf das Enneagramm. Das wurde von den Anhängern dieser Legende in der Regel damit begründet, dass es sich um Geheimwissen gehandelt habe, das ausschließlich mündlich weitergegeben werden durfte.

      1995 stieß ich (Andreas Ebert) auf einen Text des altchristlichen Wüstenvaters Evagrius Pontikus, der mich verblüffte. Auch wenn ich nicht alles verstand, hatte ich sofort das Gefühl, dieser Text müsste etwas mit dem Enneagramm zu tun haben. Handelte es sich womöglich um die erste und einzige alte schriftliche Quelle, die auf die Entstehung des Enneagrammsymbols hindeutete? Im Januar 1996 veröffentlichte ich meine Entdeckung in Heft 11 des „Enneagram Monthly“, einer internationalen Enneagrammzeitschrift („Are the Origins of the Enneagram Christian after all?“). Im April und Mai 1996 folgte in derselben Zeitschrift ein großer Aufsatz von Lynn Quirolo („Pythagoras, Gurdjieff and the Enneagram“), die unabhängig von mir zur selben Zeit dieselbe Entdeckung gemacht hatte. Lynn Quirolo ist eine Absolventin von J.G. Bennetts „International Academy for Continuous Education“ in Sherborne (England). Ihrem Artikel habe ich eine Reihe von zusätzlichen Erkenntnissen zu verdanken, insbesondere die Entschlüsselung der pythagoräischen Zahlensymbolik (siehe unten). Der Text, der uns synchron zugefallen war, enthält allem Anschein nach wesentlich klarere Hinweise auf die Ursprünge des Enneagramms als alle früheren Legenden und Spekulationen.3

      Sollten die Ursprünge des Enneagramms doch christlich – und nicht sufistisch – sein? Schon der Jesuit Bob Ochs, einer der ersten Enneagrammschüler Claudio Naranjos, „war überzeugt, dass das Enneagramm zutiefst in der christlichen Mystik verwurzelt war … Ochs erkannte die Tradition der Wüstenväter wieder, einer Gruppe von Mönchen des vierten Jahrhunderts, die die christliche Sicht der sieben kapitalen Leidenschaften entwickelt hatten, die die Typen energetisch aufladen …“4 1992 hat dann auch und unabhängig von Ochs der deutsche Benediktiner Anselm Grün die erstaunlichen Parallelen zwischen dem Enneagramm und der Lehre von den Leidenschaften festgestellt, wie sie Evagrius entwickelt hatte.5

      Die Wüstenväter oder „Anachoreten“ waren eine Bewegung des 4. nachchristlichen Jahrhunderts. Als die christliche Kirche nach langen Zeiten der Verfolgung im 4. Jahrhundert allmählich toleriert und schließlich sogar privilegiert und zur Staatsreligion erhoben wurde, ließ der Ernst der Christusnachfolge allenthalben nach. Opportunisten drängten zur Taufe. Bald wurden die heidnischen Tempel geschlossen und manche „Unbekehrbare“ ebenso grausam verfolgt wie seinerzeit die Christen durch die Heiden. Die neue Amtskirche hatte große Angst vor heidnischer Unterwanderung ihrer Lehre und vor „häretischen“ (insbesondere gnostischen) Strömungen. Mit staatlicher Unterstützung setzte sie ihre Version von „Rechtgläubigkeit“ durch. Gleichzeitig bemerkte sie nicht, wie „heidnisch“ sie selbst wurde. Anstelle eines schlichten Christusglaubens und echten Leidensbereitschaft trat immer mehr der Kampf um ein dogmatisches Monopol und um gesellschaftliche Privilegien und Macht.

      Zahllose Menschen, Männer und Frauen, die Christus ernsthaft nachfolgen wollten, sahen sich zum Rückzug gezwungen. Sie zogen aus den städtischen Zentren in die Wüste, um in kleinen Gemeinschaften oder als Einsiedler zu leben. Sie verzichteten auf die Ehe, auf weltliche Güter und weltliche Betätigung, um zur Ruhe des Herzens (hesychia) zu finden. Die Lebensgeschichte des ersten großen Wüstenvaters Antonius, die literarisch stark an die Lebensgeschichte des Pythagoras angelehnt ist, hat nicht zuletzt die bildende Kunst immer wieder inspiriert. Beliebt ist etwa die Darstellung der Versuchungen des Hl. Antonius, wie sie zum Beispiel Matthias Grünewald auf dem Isenheimer Altar dargestellt hat.

      Das Leben in der Wüste diente der Auseinandersetzung mit den Leidenschaften oder „Dämonen“, die sich insbesondere in Gestalt von Fantasien und Gedanken des Eremiten bemächtigten. Sie galt es zu besiegen. In heutiger psychologischer Sprache würde man eher von der „Integration des Schattens“ sprechen. Verdienst der Wüstenväter und -mütter war es, diese Leidenschaften zu identifizieren und gezielte Methoden zu entwickeln, wie man mit ihnen „fertig werden“ könnte.

      Evagrius Pontikus wurde im Jahre 345 in Ibora in der Provinz Pontus (im heutigen Georgien) als Sohn eines Bischofs geboren. Mit 34 Jahren wurde er zum Diakon geweiht. 381 ging er nach Konstantinopel, musste aber die Stadt wegen einer Liebesaffäre verlassen. Nach einem Zwischenaufenthalt in Jerusalem begab er sich nach Ägypten, um dort als Mönch zu leben. Bis zu seinem Tode im Jahre 399 blieb er in einer Einsiedelei in der nitrischen Wüste. Dort verfasste er seine wichtigsten Werke. Besonderen geistigen Einfluss übten auf ihn die Werke des Origenes aus, der wiederum von pythagoräischem Denken beeinflusst war und sich für eine allegorische Bibelauslegung einsetzte (das heißt, man suchte zwischen den jedermann zugänglichen Zeilen der biblischen Texte nach einem geheimnisvollen symbolischen Sinn; dabei spielte die Zahlenspekulation eine wesentliche Rolle). Die Origenisten wurden von den „Anthropomorphisten“, die nur die wortwörtliche Bibelauslegung gelten lassen wollten, bekämpft und schließlich verfolgt.

      Im Jahre 399, kurz nachdem Evagrius gestorben war, mussten seine Gesinnungsfreunde fliehen. Auf diese Weise fanden seine Werke, die sie mitnahmen, weite Verbreitung. Sie gelangten über die Grenzen des römischen Imperiums hinaus nach Armenien und in die arabische Welt, wo sie später auch die persischen Sufis beeinflussten. In Armenien genießt Evagrius bis heute große Verehrung; zum Teil wurden seine Schriften überhaupt nur in armenischer Übersetzung aufbewahrt. Die Lehre des Evagrius und der Wüstenväter übte und übt vor allem auf die Mönche der Orthodoxie, etwa auf dem Berg Athos, einen gewaltigen Einfluss aus – trotz der einstmaligen Verfolgungen und Verurteilungen. Auf dem Konzil von Konstantinopel (553) nämlich wurde neben Origenes auch Evagrius verurteilt. Drei spätere Konzilien wiederholten diese Verurteilungen.

      Das Werk des Evagrius berührt sich an zwei Punkten eng mit dem Enneagramm: In seiner Lehre von den Leidenschaften und in der Beschreibung einer auf pythagoräischer Zahlenspekulation beruhenden Figur, die wesentliche Züge des Enneagrammsymbols zeigt.

      Evagrius entwickelte erstens eine Liste von acht bzw. neun Lastern bzw. ablenkenden „Gedanken“, die den Weg zu Gott und zu leidenschaftsloser Herzensruhe

Скачать книгу