Das Enneagramm. Andreas Ebert W.

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Das Enneagramm - Andreas Ebert W.

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von ihnen ist allumfassend; keine von ihnen ist die Sache selbst. Das Studium einer Landkarte ersetzt niemals die „Er-Fahrung“ des Landes selbst.

      Alle Typologien haben den Nachteil, dass sie die Einmaligkeit, Originalität und Besonderheit des Individuums notgedrungen vernachlässigen. Deswegen begegnen ihnen viele PsychologInnen mit Vorbehalten. Die Gefahr, sich und andere in die Schublade eines bestimmten Tierkreiszeichens oder eines Enneagrammmusters zu zwängen und auf diese Weise festzulegen, ist unübersehbar. Das biblisch-christliche Menschenbild geht davon aus, dass Gott nur Originale geschaffen hat, keine Abziehbilder oder Schablonen. Niemand ist eine Nummer. Gott hat uns „mit Namen gerufen“. Die Entdeckung von „Gesetzmäßigkeiten“ im menschlichen Verhalten hat nur dann einen Sinn, wenn zugleich die Möglichkeit der Veränderung und der Befreiung vom Zwang der Determiniertheit in den Blick kommt. Diese Möglichkeit eröffnet das Enneagramm in besonderer Weise. Es geht darum, dass die Fixierung in einem „Typus“ gelockert wird, damit das unverwechselbare und einmalige Original ans Licht kommen kann.

      Das Enneagramm beschreibt wie andere Typologien unterschiedliche Charaktermuster. Aber das ist nur der Anfang. Über die Beschreibung von Zuständen hinaus enthält das Enneagramm eine innere Dynamik, die auf Veränderung zielt. Es ist eine ausgesprochen anspruchsvolle Einladung zum seelisch-spirituellen Wachsen und Reifen – jedenfalls wenn es angemessen vermittelt wird. Es ist weit mehr als ein unterhaltsames Selbsterfahrungsspiel. Es geht um Veränderung und Umkehr, um das, was einige spirituelle Traditionen Bekehrung oder Buße nennen, andere Erwachen. Es konfrontiert uns mit den Festlegungen und Gesetzen, unter denen wir unbewusst leben, um uns zu ihrer Überwindung und zu Schritten in den weiten Raum der Freiheit einzuladen.

      Der Ausgangspunkt des Enneagramms sind die Sackgassen, in die wir Menschen bei unserem Versuch geraten, unser Leben vor inneren und äußeren Bedrohungen zu schützen. Der Mensch, so wie ihn Gott geschaffen hat, ist nach biblischer Auffassung seinem Wesen nach „sehr gut“ (1. Mose/​Genesis 1,31). Diese seine Essenz, sein „wahres Selbst“, ist schon während der Schwangerschaft und spätestens vom Augenblick seiner Geburt an dem Ansturm bedrohlicher Kräfte ausgesetzt. Die christliche Lehre von der Erbsünde weist auf diese Tatsache hin, indem sie betont, dass es den unverletzten, freien und „sehr guten“ Menschen zu keinem Zeitpunkt seiner Existenz real gibt. Wir sind von Anfang an destruktiven Einflüssen ausgesetzt und deshalb erlösungsbedürftig. Das genetische Material, aus dem wir zusammengesetzt sind, enthält bereits Programmierungen, die unser Wesen vom Moment der Zeugung an mitbestimmen. Das familiäre System, in das wir hineingeboren werden, legt uns von vornherein Erblasten auf.

      Die Außenwelt begegnet dem Kind zunächst vor allem in Gestalt seiner Eltern und Geschwister, später durch Kameraden, Lehrer, die Werte und Normen der Gruppe, Religion und Gesellschaft und den jeweils herrschenden Zeitgeist. Viele unterschiedliche Faktoren kommen zusammen, prägen uns und verdichten sich zu Denk- und Handlungsstrukturen. Sie manifestieren sich als innere „Stimmen“, lassen sich meist in kurze und prägnante Sätze zusammenfassen, begleiten uns – oft unbewusst – durchs ganze Leben und wirken sich maßgeblich auf unser Verhalten und unseren Charakter aus. Manchmal wurden uns diese Stimmen verbal übermittelt („Sag immer schön danke!“); manchmal haben sie sich als Reaktion auf das nonverbale Gesamtverhalten der Umwelt herausgebildet („Komm mir nicht zu nahe!“).

      Der heranwachsende Mensch reagiert auf diese Stimmen, indem er bestimmte Ideale internalisiert („Ich bin gut, wenn ich …“), Vermeidungsstrategien entwickelt, um Strafen oder anderen unangenehmen Folgen des „Fehlverhaltens“ zu entgehen, und spezifische Abwehrmechanismen aufbaut. Schuldgefühle treten immer dann auf, wenn man dem eigenen Ideal und Anspruchssystem nicht gerecht wird. Die eigentliche Fehlhaltung, die sich im Enneagramm in neun „Leidenschaften“ oder „Wurzelsünden“ manifestiert, bleibt dagegen meist verborgen. Sie gehören ja gerade zu den Mitteln, die wir bei der Verfolgung unserer falschen Ideale einsetzen. Das Enneagramm deckt diese illusionären Ideale und falschen Schuldgefühle auf und hilft uns, unserem wahren Dilemma ins Auge zu sehen.

      Wir gehen davon aus, dass wir zugleich von „ererbten“ Anlagen, von familiären (systemischen) Konstellationen und von Umwelteinflüssen geprägt sind. Wichtiger als die Ursachenforschung (die Frage nach dem „Woher“) ist die Frage nach dem Ziel unseres Lebens („Wohin?“). Als Jesus und seine Jünger einem Blindgeborenen begegnen, fragen sie den Meister: „Wer hat gesündigt, er selbst oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“ Jesus antwortet: „Weder dieser noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm sichtbar werden!“ (Johannes 9,1 ff.). Das Enneagramm kann uns helfen, einen Blick für unsere Zukunft und Bestimmung zu bekommen, für jenes wahre Angesicht, das wir noch nicht „haben“, das aber bereits in unserer Tiefe schlummert.

      Das Enneagramm (von griechisch ennea = neun und gramma = Zeichen oder Figur) wird als Kreissymbol dargestellt. Er symbolisiert die Ganzheit, aber auch eine energetische Bewegung im Uhrzeigersinn. An der Peripherie des Kreises befinden sich im Abstand von jeweils 40 Grad neun Punkte, die von EINS bis NEUN durchnummeriert werden, wobei NEUN der „obere“ Ausgangspunkt ist. Die Punkte DREI, SECHS und NEUN sind durch ein Dreieck miteinander verbunden, die Punkte ZWEI, VIER, EINS, SIEBEN, FÜNF, ACHT (und ZWEI) durch einen unregelmäßigen sechseckigen Stern. Jeder der Enneagrammpunkte bezeichnet einen bestimmten Energiezustand, die Übergänge zwischen den Zuständen sind fließend. Die Verbindungslinien verweisen auf die Dynamik zwischen bestimmten Energiepunkten. Aber bevor wir uns diesen Energien und ihrer Dynamik detailliert zuwenden, sind noch eine Reihe weiterer Vorinformationen nötig, die insbesondere die Entstehungsgeschichte dieses Symbolsystems betreffen.

      Figur 1: Das Enneagramm

      Die Ursprünge des Enneagramms lagen lange wie hinter einem Schleier verborgen. Das machte die Sache einerseits besonders geheimnisvoll – andererseits nährte es Spekulation und Skepsis und trug kaum zur Glaubwürdigkeit oder gar zu einer ernsthaften akademisch-wissenschaftlichen Würdigung des Systems bei. Es waren ja keinerlei schriftliche Quellen bekannt, aus denen man hätte nachvollziehen können, dass es sich tatsächlich um eine „uralte Weisheitslehre“ handelt, wie die beiden „Entdecker“ oder „Erfinder“ des Enneagramms behauptet haben. Auch wir mussten 1989, als unser Buch erschien, dieses Manko bekennen. Man wusste zunächst nur, dass das Enneagramm im Abendland erstmals 1916 von George Iwanowitsch Gurdjieff (1866 oder 1872 bis 1949, selbst sein Alter verschleierte er!) vorgestellt wurde – und zwar als umfassendes Symbol der harmonischen Struktur und der Dynamik des Kosmos, als kosmisches Prozessmodell – und nicht als Charaktertypologie. Gurdjieff gab niemals explizit Auskunft über seine Quellen. J. G. Bennett, einer der prominentesten Schüler Gurdjieffs, vertrat die Ansicht, Gurdjieff hätte das Enneagramm von asiatischen Sufis gelernt. Oscar Ichazo, der in den frühen 70er Jahren das „Enneagramm der Fixierungen“ entwickelte, benutzte Gurdjieffs Modell und verwies in mehreren – zum Teil sehr kryptischen – Aussagen ebenfalls auf geheime sufistische Quellen, aber auch auf Engelsvisionen und Ähnliches. Das macht die Sache nicht schlüssiger. Auch Ichazo (geb. 1931) hält seine Quellen bis heute letztlich geheim.

      Die gängige Entstehungslegende des Enneagramms, die in der Zeit des ersten Enneagrammbooms in den 70er Jahren kolportiert wurde, lautet in etwa: Die Ursprünge des Enneagramms reichen viele Jahrtausende zurück bis in den Nahen Osten, wo die Wiege der großen Menschheitsreligionen stand. Dieses Wissen, das alle großen Religionen beeinflusst habe, sei im Lauf der Jahrtausende von vielen angereichert und tradiert worden. Bennett nennt in diesem Zusammenhang insbesondere die „Magi“, jene morgenländischen Weisen des ersten vorchristlichen Jahrtausends, die zugleich Priester, Philosophen, Astronomen, Astrologen, Psychologen, Theologen und Magier waren. (Nach Auskunft des Matthäusevangeliums kamen solche Magier nach der Geburt Jesu nach Jerusalem, um dem

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