Das Enneagramm. Andreas Ebert W.
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Wir hoffen vor allem, dass uns das Enneagramm hilft, liebevoller zu werden. Wenn das geschieht, ist das Ziel erreicht, zu dem wir geschaffen sind. Wir hoffen, es macht uns fähiger, andere Menschen zu lieben, uns selbst zu lieben – und Gott zu lieben. Das war für mich selbst (Richard Rohr) eine ernüchternde und zugleich sehr schöne Erfahrung: Gott hat das alles längst gewusst! Er wusste, dass ich eine EINS bin. Er wusste, dass ich immer wieder das Richtige aus dem falschen Beweggrund oder zumindest aus sehr gemischten Motiven mache. Er wusste, dass ich aus sehr gemischten Motiven Priester geworden bin, mich auf den Zölibat eingelassen habe, die New-Jerusalem-Kommunität gegründet habe, nach Albuquerque gegangen bin – aber das ist in Ordnung! Es ist demütigend und zugleich befreiend zu wissen, dass Gott es weiß und dass Gott sogar unsere Sünde für seine Ziele benutzt. Wer die Kraft und die Wahrheit des Enneagramms entdeckt, kommt unweigerlich an diesen Punkt: Gott benutzt unsere Sünde! (Wir verwenden bewusst das Wort Sünde, obwohl wir wissen, dass dieses Wort für viele Ohren moralisierend und wertend klingt! Wir kommen noch darauf zurück.) Das ist beschämend und befreiend zugleich. Denn es ist eine Erfahrung bedingungsloser Liebe, wie wir sie wahrscheinlich nie zuvor erlebt haben. Es ist vor allem für perfektionistische EINSer wie mich (Richard Rohr) eine umwerfende Erfahrung, wenn uns klar wird: Gott liebt etwas Unvollkommenes – nämlich mich!
Wenn Gott fähig ist, etwas Unvollkommenes zu lieben und zu gebrauchen – etwas anderes bekommt Gott sowieso nie, denn es gibt nichts Perfektes auf dieser Welt –, dann eröffnet das einen ungeheuren Freiheitsraum.
Es geht beim Enneagramm um jene innere Arbeit, die unserem geistlichen Weg Echtheit verleihen kann. Zugleich schafft sie neue Schwierigkeiten. Viele unserer unhinterfragten Voraussetzungen und vordergründigen Lösungen werden nicht mehr funktionieren wie bisher. Denn das Enneagramm zeigt uns unter anderem die dunkle Seite unserer Begabung.
Begabte Sünder
Die Wüstenväter und auch die Sufis waren der Ansicht – obwohl das zunächst nicht sehr einleuchtend klingt –, dass Menschen durch ihre Begabungen und Talente zerstört werden. Wir werden von unseren Gaben zerstört, weil wir uns zu sehr mit dem identifizieren, was wir gut können. Man hat uns einst beigebracht, wir würden durch unsere „Sünde“ zerstört. Aber die Sache ist subtiler. In fast allen spirituellen Traditionen wird vor dem „Anhaften“ gewarnt. Wir kleben zu sehr an dem, was uns natürlich zufällt. Wir haben ein „natürliches“ Vorurteil und „natürliche“ Verhaltensmuster, einen „natürlichen“ Blickwinkel, eine „natürliche“ Leidenschaft. Das alles entwickeln wir während der ersten 30 Jahre unseres Lebens. Wir leben es aus und kassieren womöglich Applaus dafür. Deshalb ist es nicht sehr sinnvoll, sich bereits in dieser Zeit mit dem Enneagramm zu beschäftigen. In jungen Jahren spielt man mit bei dem großen Spiel. Das ist richtig und wichtig. Das Enneagramm könnte zu früh zum Spielverderber werden. Jesus sagte einmal – ohne jeden Vorwurf – zu Petrus: „Als du jünger warst, da hast du dir selbst den Gürtel umgeschnallt und bist deine eigenen Wege gegangen!“ (Johannes 21,18). In jungen Jahren muss das Ego aufgebaut und gestärkt werden, man muss sich von jener Energie leiten lassen, die natürlich zu sein scheint.
Aber irgendwann in den Dreißigern, spätestens, wenn man vierzig ist, wird dieses Spiel immer fader. Das alles hat bisher so gut funktioniert, man konnte damit Eindruck machen bei den Leuten, man war „der Coole“ oder „die Witzige“ oder „der ernste, nachdenkliche Student“. Auf dieses Selbstbild hat man sich bisher fixiert und fixieren lassen. Es war eine Hilfe, um das eigene Ich von der Umwelt abzugrenzen. Aber je mehr sich solche Ich-Grenzen verhärten und je mehr sich jemand mit solch einem Selbstbild identifiziert und es um jeden Preis aufrechterhalten will, desto deutlicher zeigt sich auch die Kehrseite der Medaille. Wenn jemand bis zum vierzigsten Lebensjahr damit beschäftigt war, dieses Bild zu kultivieren, wird es für ihn sehr schwierig, sich zu verändern. Gleichzeitig wird immer klarer: Das stimmt alles nicht mehr. Was Lust war, wird zur Last. Dieser Zeitpunkt in der Lebensmitte birgt deshalb – so schwierig es ist – die große Chance in sich, das bisher Erreichte kritisch zu reflektieren und sich zu verändern; reifer, weiser und tiefer zu werden. Nun wird die Fortsetzung der Worte Jesu an Petrus aktuell: „Jetzt, da du älter wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst!“ (ebenda).
Nach vielen Jahren in der Seelsorge sind wir beide davon überzeugt, dass es nichts gibt, worauf Menschen so fixiert sind wie auf ihr Selbstbild. Wir sind buchstäblich bereit, durch die Hölle zu gehen, bloß um das nicht aufgeben zu müssen. Es determiniert das meiste von dem, was wir tun oder lassen, sagen oder verschweigen, mit wem wir uns abgeben und mit wem nicht. Wir alle sind davon betroffen. Die Frage lautet: Habe ich die Freiheit, etwas anderes zu sein als diese Rolle und dieses Bild?
Wenn wir es mit Gott, dem Großen Liebhaber zu tun bekommen, dann müssen wir uns verändern. Denn der Große Liebhaber öffnet uns auf seine fantasievolle Weise die Augen dafür, wie reich und vielfältig unser Leben sein könnte und ist, sodass unser bisheriges Spiel plötzlich sehr fade wird. Solche Spiele limitieren die Möglichkeiten der Liebe. Sie verhindern, dass die Große Liebe uns erreicht. Das Enneagramm kann Menschen helfen, sich von ihrem Selbstbild zu lösen: „Lass los! Du brauchst das nicht! Du musst dich nicht selbst einsperren in das beschränkte Bild, das du von dir hast. Es ist nicht wichtig, ob du dieses bist oder jenes. Du bist Gottes lieber Sohn, Gottes liebe Tochter – das ist entscheidend.“ Unsere Identität wird primär durch diese Beziehung gestiftet und ist nicht etwas, was wir schützen, definieren und verteidigen müssen.15 Das Enneagramm kann uns helfen, innerlich abzurüsten, die Verteidigung jenes Selbstbildes aufzugeben, das wir selbst geschaffen haben. In diesem Sinne sind es gerade unsere Gaben, die uns zum Verhängnis werden können. Wir identifizieren uns übermäßig mit dem, was wir gut können. Wir alle spielen diese Rollen; wir können sie genauso fieberhaft daheim in unserer kleinen Welt verteidigen wie auf der öffentlichen Bühne.
So wird jede Gabe, auf die wir uns übermäßig fixieren, paradoxerweise zu unserer Sünde. Unsere Gabe und unsere Sünde sind zwei Seiten derselben Medaille. Um deiner Gabe zu begegnen, musst du deine Sünde gleichsam kauen, essen, dir einverleiben. Iss sie, schmeck sie, fühl sie, lass dich von ihr demütigen! Das ist sehr traditionelle kirchliche Lehre. Jeder Gottesdienst beginnt damit, dass die Sünde beim Namen genannt wird. In der Liturgie heißt das Confiteor (Sündenbekenntnis) oder Allgemeines Schuldbekenntnis (Bußakt); es wird relativ formalistisch vollzogen. Im Zusammenhang mit dem Enneagramm kommt „Butter an die Fische“. Wir werden unsere konkrete Sünde fühlen, erkennen und sehen, wie übertrieben,