Das Enneagramm. Andreas Ebert W.

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Das Enneagramm - Andreas Ebert W.

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      Wenn wir mithilfe des Enneagramms unsere eigene Falle oder Sünde entdecken, werden wir merken, dass sie ähnlich „funktioniert“ wie eine sexuelle Obsession. Junge Männer haben angeblich alle zehn Minuten sexuelle Impulse. Mit der Enneagrammenergie verhält es sich genauso. Sie bestimmt uns mindestens alle zehn Minuten. Sie ist wie eine Sucht. Vielleicht wird sie deshalb Leidenschaft genannt. Ich bin alle zehn Minuten eine EINS oder eine ZWEI, wahrscheinlich sogar alle fünf oder alle drei Minuten. Mein Muster steckt in meinen Gliedern, in meinen Knochen, es liegt mir im Blut, ist meine Haut, mein Atem, meine Denkweise, meine Mimik, meine Gestik.

      Manche wollen eine wirkliche Umkehr vermeiden, indem sie sagen: „Ich bin ein bisschen VIER, ein bisschen SECHS und ein bisschen ZWEI.“ Das stimmt natürlich. Wir haben alle ein bisschen von allem in uns. Wir alle nehmen an den gängigen Gesellschaftsspielen teil und begehen alle neun Hauptsünden. Aber es gibt ein Hauptdilemma, eine Hauptwurzel des Übels, ein Lieblingslaster bei jeder und jedem von uns, das allen Bereichen unseres Lebens Farbe und Geschmack gibt. Diese eine Falle ist so allgegenwärtig in unserem Leben, dass wir sie selbst nicht erkennen. Wir waren schon immer so. Deswegen müssen wir versuchen, sie gleichsam mit List zu fangen. Wenn das gelingt, ist das in der Regel mit einem großen Aha-Erlebnis verbunden. Mit einem Schlag wird klar, warum ich all das gemacht habe, was ich gemacht habe. Ich sehe, dass ich dasselbe Verhaltensmuster schon als kleiner Junge oder als kleines Mädchen „drauf hatte“. Es ist der rote Faden in meinem Leben. Es erklärt alles: warum ich bestimmte Freunde gewählt habe, warum ich eine bestimmte Sportart ausgeübt habe usw. Überall verläuft der rote Faden. Das zu erkennen und zuzugeben ist tatsächlich mehr als ernüchternd.

      Wenn wir in der Falle unserer „Nummer“ und unserer Energie sitzen, sind wir nicht frei – das ist offensichtlich. Dann erlauben wir äußeren Ereignissen und anderen Menschen, unsere Energie zu determinieren. Sie bestimmen, ob sie uns für unser Verhalten belohnen oder bestrafen. Wir leben nicht wirklich aus uns selbst heraus.

      Die bedingungslose Liebe Gottes befreit Menschen dazu, sich selbst als wirklich stark zu erleben. „Stärke“ verwenden wir in diesem Zusammenhang im spirituellen Wortsinn. Eine biblische Definition für den Heiligen Geist ist dynamis, was so viel heißt wie „Kraft“ oder „Stärke“. Es geht um jene Kraft, die uns die Gewissheit schenkt, dass Gott uns zu sich zieht und dass wir mit dem heiligen Gott Gemeinschaft haben. Der oder das Böse ist daran interessiert, uns diese Erfahrung unserer Vollmacht und Würde zu nehmen. Vielleicht sollten wir am besten von Würde reden, weil alles, was mit Macht, Stärke und Kraft zusammenhängt, oft missbraucht wurde und deshalb missverständlich ist.

      Das Enneagramm kann uns zu dieser inneren Erfahrung von Würde und Kraft führen. Es zeigt uns schonungslos unsere Fehler! Wir machen das Richtige allzu oft aus den falschen Motiven. Aber wenn wir uns durch unsere Falle „hindurcharbeiten“ und auf der anderen Seite wieder auftauchen, dann stehen wir vor der Tiefe unseres Selbst. Dort finden wir eine gereinigte Leidenschaft, eine geläuterte Kraft, unser bestes und wahres Selbst. Die Tradition hat diesen Ort die „Seele“ genannt, jenen Punkt, wo Mensch und Gott sich begegnen, wo Einheit möglich ist und wo Religion nicht in erster Linie aus Worten, Appellen, Normen, Dogmen, Ritualen und Gottesdienstbesuchen besteht, sondern zur Begegnungserfahrung wird. Wir geben das Enneagramm nach wie vor gerne weiter, weil es zu den wenigen Dingen gehört, bei denen wir mit eigenen Augen gesehen haben, wie sich Menschen in diesem Sinne verändert haben.

      Das Enneagramm definiert seine neun Menschentypen von neun „Fallen“, „Leidenschaften“ oder „Hauptsünden“ her. Man kann diese Sünden als Notlösungen verstehen, die in der frühkindlichen Entwicklung eines Menschen gebraucht wurden, um mit der Umwelt zurechtzukommen. Sie waren nötig, um zu überleben. Aber je älter wir werden, desto deutlicher werden diese Lösungen ihrerseits zur Not, von der wir erlöst werden müssen, um wirklich wir selbst zu sein.16 Erstaunlich ist, dass es sich bei den neun Sünden des Enneagramms erstens um die „klassischen“ sieben Hauptsünden der katholischen Tradition handelt (Stolz, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Maßlosigkeit bzw. Völlerei, Unkeuschheit) und dass zweitens zwei weitere „Sünden“ dazukommen (Lüge und Furcht), die in der traditionellen Kirchenlehre fehlen. Auf diese auffällige Fehlanzeige und ihren Hintergrund werden wir weiter unten noch zurückkommen.

      Die ältesten Listen von „Wurzelsünden“, aus denen die „aktuellen“ Sünden und Laster wie die Äste aus einem Baum entsprießen, gehen – wie erwähnt – auf die Wüstenväter zurück. Evagrius Pontikus und sein Schüler Johannes Cassian nennen wie erwähnt acht bzw. einmal neun Leidenschaften. Gregor der Große sieht den Stolz als eigentliche Ursünde, der in sieben andere Sünden mündet. Schließlich wurde in der Kirche die „heilige“ Siebenzahl verbindlich. In der mittelalterlichen Literatur und Malerei spielten die sieben Hauptsünden eine wichtige Rolle („Purgatorium“ in Dantes „Göttlicher Komödie“; „Erzählung des Pfarrers“ in Chaucers „Canterbury Tales“; Hieronymus Boschs allegorische Darstellung).

      Interessant ist der Begriffswandel von „Wurzelsünde“ zu „Todsünde“. Die ursprüngliche Vorstellung von „Wurzelsünden“ geht davon aus, dass der „Sündenbaum“ einige Hauptwurzeln hat, von denen alle anderen Sünden abzweigen. Die scholastische Auffassung von den „Todsünden“ befasst sich dagegen mehr mit den Folgen der Sünde. Schon Paulus bezeichnet den Tod als „Sold der Sünde“ (Römer 6,23). Im Jakobusbrief wird der Weg von der Versuchung über die Sünde in den Tod nachvollzogen: „Keiner, der in Versuchung gerät, soll behaupten: Ich werde von Gott versucht. Gott kommt weder selbst in Versuchung, Böses zu tun, noch führt er die Menschen in Versuchung. Die Menschen werden von ihrer eigenen Begehrlichkeit in Versuchung geführt, die sie lockt und schließlich einfängt. Wenn die Begierde schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt; ist die Sünde reif geworden, bringt sie den Tod hervor“ (Jakobus 1,13 – 15).

      Im 1. Johannesbrief schließlich wird zwischen Sünden unterschieden, die zum Tod führen, und solchen, die nicht zum Tod führen: „Wer sieht, dass sein Bruder eine Sünde begeht, die nicht zum Tode führt, soll für ihn bitten. Gott wird allen denen das Leben schenken, deren Sünde nicht zum Tod führt …“ (1. Johannes 5,16). Diese Unterscheidung trägt der Tatsache Rechnung, dass es kleinere Charaktermängel und Fehler gibt, die tolerabel sind, und grobe Formen des Fehlverhaltens bzw. einer grundlegenden Zielverfehlung, die für die Seele eines Menschen und für das zwischenmenschliche Zusammenleben hochgradig destruktiv, ja tödlich sind.

      Die Gefahr dieser Sündenlehre besteht darin, dass nur nachweisliche Normverstöße „Sünde“ genannt werden, während die Tiefendimension der Sünde weitgehend unbeachtet bleibt. Die Reformatoren verzichteten deshalb auf die Unterscheidung zwischen „lässlichen“ und „tödlichen“ Sünden. Das Problem sind ihrer Ansicht nach nicht die Einzelsünden, sondern es ist der sündige Mensch selbst. Die Wurzelsünde ist bei Luther der Unglaube, der Mangel an Vertrauen, die Weigerung, sich lieben und beschenken zu lassen. Die aktuellen, konkreten Sünden sind die faulen Früchte dieses Urmangels. Die berechtigte Kritik am römisch-katholischen Sündenverständnis hatte in der protestantischen Praxis ihrerseits problematische Folgen: Protestanten verstanden sich zwar ganz allgemein als „Sünder“, aber dieser Begriff verlor den konkreten Inhalt. Die persönliche Beichte ging fast völlig verloren. Nicht nur die Tatsache, dass wir Sünder sind, ist tödlich. In unseren aktuellen Fehlhaltungen wird der Tod konkret: Sie zerstören unsere Psyche, unsere Gottesbeziehung, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, die Natur und die Welt. Deswegen müssen sie entlarvt und mit Namen genannt werden. Dass die Sünde „den Tod gebiert“, wie es im Jakobusbrief heißt, ist mehr als ein Bild. Unsere Maßlosigkeit beispielsweise tötet Tiere und Wälder, unsere Aggressivität und Furcht

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