Das Enneagramm. Andreas Ebert W.
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Damit das möglich ist, müssen wir geläutert und gereinigt werden. Unser altes Selbst, unser alter Adam, unsere alte Eva muss sterben. Das fühlt sich wirklich wie Tod an. Da gibt es nichts romantisch zu verbrämen, das macht auch keinen Spaß. Es tut weh. Man wird sich fühlen, als ob einen alle anderen auslachen. Man wird das Gefühl haben, viele Beziehungen verhunzt und kaputtgemacht zu haben, wenn einem klar wird, wie viele Menschen man ausschließlich dazu benutzt hat, das eigene Selbstbild aufzubauen und aufrechtzuerhalten.
Das ist der Grund, weshalb im geistlichen Leben unsere Feinde unsere besten Freunde sind. Deswegen ist das Gebot Jesu so wichtig: „Liebt eure Feinde!“ Wenn wir dem Feind dort draußen vor der Tür, diesem Nicht-Ich, nicht gestatten, unsere Welt zu betreten, werden wir niemals fähig sein, unserer Sünde oder unserer dunklen Seite ins Gesicht zu sehen. Menschen, die mir auf den Wecker gehen, die mich bedrohen und die mir Angst machen, müssen zwar nicht unbedingt meine Busenfreunde werden, aber sie haben eine wichtige Botschaft für mich. Das Enneagramm kann dazu verhelfen, für diese Botschaft empfänglicher zu werden. Wir werden sehen, dass es bestimmte Typen gibt, die von Haus aus bedrohlich für uns sind, weil sie unser Spiel aufdecken – oder weil sie unser Spiel nicht brauchen. Das ist der Grund, warum wir die Kirche als „Leib Christi“ verstehen. Das bedeutet unter anderem, dass wir die Wahrheit von bestimmten Leuten nur zu bestimmten Zeiten verkraften. Es gibt Leute, für die bin ich mit meiner Art in ihrer momentanen Situation geradezu Gift.
Die Wahrheit ist einfach und schön
Einstein war ständig auf der Suche nach einer universellen Energietheorie. Er war überzeugt, dass die Erklärung der Welt und ihrer Ursachen letztlich einfach und schön sein müsste. Er war ferner der Meinung, dass eine „Weltformel“, die nicht einfach und schön ist, auch nicht wahr sein kann. Das lässt sich aufs Enneagramm übertragen: Es vermittelt eine Erfahrung, die uns erschreckt und herausfordert, die aber zugleich einfach und schön ist. Das Enneagramm ist schön, weil es uns als kleine, partielle und gebrochene Menschen zeigt. Es ist schön, wenn wir endlich nicht mehr so tun müssen, als seien wir mehr als das – und wenn wir merken, dass wir alle im selben Boot sitzen. Wir spielen alle unsere Spiele, kultivieren unsere Vorurteile und unsere unerlöste Sicht der Welt.
Deshalb müssen wir unsere Gabe annehmen, um unsere Sünde zu sehen – und wir müssen unsere Sünde annehmen, um zu erkennen, wie begabt wir sind. Wir müssen unsere Gabe begrenzen, sonst wird unsere Sünde zur Falle – während wir sie „Tugend“ nennen. Auch das ist traditionelle kirchliche Lehre. Thomas von Aquin und viele Scholastiker haben bereits gesagt, dass alle Menschen etwas wählen, was gut aussieht. Niemand tut willentlich Böses. Jeder von uns hat sich sein System zurechtgelegt, mit dessen Hilfe wir erklären, weshalb das, was wir tun, richtig und gut ist. Deshalb ist es so nötig, die „Geister zu unterscheiden“, wie es in der Bibel heißt. Wir brauchen eine Hilfestellung, um unser falsches Selbst zu entlarven und uns von unseren Illusionen zu distanzieren. Dazu ist es nötig, dass wir eine Art „inneren Beobachter“ installieren; manche reden auch von einem „fairen Zeugen“. Zunächst klingt das recht kompliziert, aber nach einer Weile wird es ganz natürlich. Es geht im Grunde um jenen Teil von uns selbst, der ehrlich ist – nicht nur im negativen Sinne, sondern auch im positiven. Er sagt uns zum Beispiel: „Du liebst Gott wirklich und sehnst dich nach ihm. Du bist gut. Hör auf, dich selbst so brutal niederzumachen! Du bist eine Tochter Gottes! Du kannst mitfühlen!“ Er hilft uns, Moralismus von echter Moral zu unterscheiden, Schuldgefühle von wirklicher Schuld, falschen Stolz von echter Stärke. Bei der Selbsterkenntnis, die das Enneagramm vermittelt, geht es nicht nur um Sündenerkenntnis. Es geht auch, und am Ende vor allem darum, alles, was nur scheinbar gut ist, loszulassen, damit wir das an uns entdecken, was wirklich gut ist.
Vor allem für diejenigen, die in einer religiösen Umgebung aufgewachsen sind, dauert es meist eine Weile, bis sie diese positiven Stimmen hören können. Da sind all die negativen Stimmen im Inneren, die ständig Urteile fällen: „Gut, besser, am besten, richtig, falsch, heilig, Todsünde, lässliche Sünde, verdienstlich, unwürdig, verdammenswert“ – und alle Stufen dazwischen. In gewisser Weise gibt es nichts Schwierigeres, als mit religiösen Menschen zu arbeiten. Sie haben solch einen Hang zum Moralisieren, dass sie unfähig sind, die Wirklichkeit anzunehmen und ihr direkt zu begegnen. Deshalb können wir so viel von der Schöpfungsspiritualität, von der indianischen Spiritualität und von echter franziskanischer Spiritualität lernen. Sie alle lassen die Schöpfung, die Natur, die Erde – also all das, was ist – zu uns sprechen. Religiöse Menschen hingegen neigen dazu, mit vorgefertigten Schlussfolgerungen, Bibelzitaten und Dogmen daherzukommen, sodass sie es gar nicht mehr nötig haben, die Realität und den gegenwärtigen Augenblick wahrzunehmen. Wir hoffen, dass das Enneagramm dabei hilft, diese moralistischen Werturteile aus dem Weg zu räumen, weil es zeigt, wie übertrieben sie sind. Es zeigt die Vorurteile, die uns daran hindern, die ganze Wirklichkeit zu erfahren.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier
Unsere Sünde („unerlöste“ Weltwahrnehmung) ist paradoxerweise auch die Methode, die uns hilft, an unsere Antriebskraft zu kommen. Wenn wir unsere „Lieblingssünde“ begehen, sind wir „voll da“. Deswegen können wir sie nicht einfach „aufgeben“. Sie gehört ja zur Art und Weise, wie wir unserem Leben Ziel und Richtung geben. Sie gehört zur Überlebensstrategie, die wir uns als Kind zugelegt haben, sie gehört zu dem Raum, in dem wir daheim sind. Wir alle sind „Gewohnheitstiere“. Wir ziehen uns immer wieder dorthin zurück, wo wir uns zu Hause fühlen. Deshalb ist dort, wo unsere Sünde daheim ist, auch unsere Gabe zu finden.
Ich (Richard Rohr) gehe dabei von mir selbst aus: EINSer sind idealistisch und perfektionistisch. Sie wollen die Welt vervollkommnen. Sie ärgern sich – meist heimlich –, weil die Welt nicht vollkommen ist. Gleichzeitig sind sie Genies der Wahrnehmung: Deutlicher als andere sehen sie, was tatsächlich nicht in Ordnung ist. Es kann für sie selbst und andere die Hölle sein, mit dieser Gabe zu leben. Wenn EINSer in ihrer Fixierung bleiben, werden sie hyperkritische Nörgler, Leute, deren Gegenwart anderen mit der Zeit auf den Geist geht. Denn zu viel des Guten wird automatisch etwas Schlechtes. Das gilt für alle neun Typen: Das Zuviel des Guten macht jede Gabe zum Fluch. Deshalb geht es um die Frage: Wie können wir unsere jeweilige Energie so freisetzen, dass sie dem Leben und der Wahrheit dient? Als EINSer weiß ich nicht, wie ich an meine eigene Energie herankomme, es sei denn dadurch, dass ich mich darüber aufrege, wie dumm und absurd diese Welt ist. Durch den Zorn (meine Hauptsünde!) zapfe ich tatsächlich meine beste Energiequelle an. Aber gleich im Anschluss muss ich genügend Freiheit besitzen, um mir zu sagen: „Jetzt reicht’s wieder!“ Ich muss mich von mir selbst lösen können: „Ja – aber … Ja, das alles stimmt schon, aber du übertreibst! Du hast Recht – aber du liegst auch falsch.“ Das ist die Funktion des „objektiven Beobachters“: Ich kann etwas wahrnehmen, aber auch wieder loslassen. Bindung und Freiheit arbeiten auf diese Weise konstruktiv zusammen. Nur wenige Menschen haben diese Freiheit. Vor allem in religiösen Kreisen begegnen einem häufig Ideologen: Rechte, Linke, Liberale, Konservative. Sie alle kontrollieren das Leben von einem imaginären Kontrollturm aus, der sich in ihrem Kopf befindet. Irgendwann wird das ermüdend. Solange alle an ihren Vorurteilen kleben und sich mit ihren vorgefassten Ansichten und Gefühlen identifizieren, ist echte Gemeinschaft unter Menschen unmöglich. Du musst an den Punkt kommen, wo du dich auch von deinen Gefühlen lösen kannst, sonst hast du am Ende keine Gefühle mehr, sondern die Gefühle haben dich. Manchmal begegnet man Menschen, die frei sind von sich selbst: Sie drücken aus, was sie bewegt – und können dann gleichsam einen Schritt zurücktreten. Sie bringen sich ein, aber man merkt ihnen an, dass sie nicht meinen, die Wahrheit gepachtet zu haben. Ohne diese Art von innerer Arbeit, die darin besteht, dass ich mich zugleich einbringen und relativieren kann, ist Gemeinschaft zum Scheitern verurteilt. Wie viele Kirchengemeinden scheitern zum Beispiel an der Unfähigkeit