Das Enneagramm. Andreas Ebert W.

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Das Enneagramm - Andreas Ebert W.

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Begriff der „Wurzelsünde“, um zu betonen, dass wir eine radikale Erneuerung nötig haben (radikal von lat. radix = Wurzel).

      Der Begriff der „Sünde“ ist für viele Menschen heute schwer verständlich geworden; schon das Wort löst Abwehr aus. Die kirchliche Sündenlehre wurde oft genug dazu missbraucht, Menschen einzuschüchtern. Vor allem die kirchliche Sexualmoral wurde jahrhundertelang in einer Weise verkündigt, die neurotische Ängste, Verklemmtheit und Schuldgefühle begünstigt hat. Das alles könnte es nahe legen, auf diesen Begriff überhaupt zu verzichten. Aber dadurch entsteht ein Vakuum, das nicht zu füllen ist. Sinnvoller erscheint es uns, den Begriff neu verstehen zu lernen. Das griechische Wort für „Sünde“, hamartia, stammt aus der Kunst des Bogenschießens und bedeutet eigentlich „Zielverfehlung“. Sündigen heißt in diesem Sinne daneben treffen. Ich visiere zwar das richtige und gute Ziel an, aber ich bin nicht gesammelt und ausgerichtet genug, um es tatsächlich zu erreichen. In diesem Sinne ist der Ausspruch des Kirchenvaters Augustinus gemeint: „Suche, was du suchst – aber suche es nicht da, wo du es suchst!“ Im deutschen Wort Sünde steckt die Wurzel sund, was so viel wie „Kluft“ oder „Trennung“ bedeutet. Das Wort „Sünde“ bedeutet unsere Trennung von Gott, aber auch von unseren Mitmenschen und von uns selbst. Sünden sind Fixierungen, die die Energie des Lebens, Gottes Liebe, daran hindern, frei zu fließen. Das lässt sich beispielsweise an der Furcht verdeutlichen, der „Wurzelsünde“ von Muster SECHS. Furcht ist keine moralische Kategorie; aber sie kann zwischen uns und Gott stehen und so die Liebe und das Leben verhindern. Wir verstehen unter „Sünde“ in diesem Buch jene selbst errichteten Blockaden und Hindernisse, die uns von Gott und damit von der Fülle des Lebens und unseren eigenen echten Potenzialen abschneiden. Sünde sind Versuche der Lebensbewältigung oder Lebenssteigerung mit untauglichen Mitteln. Sünden sind Mogelpackungen; sie versprechen etwas, was sie nicht halten können. Obwohl unsere Sünde zum Teil Reaktion auf fremde Schuld und frühkindliche Verletzungen ist, haben wir sie „gewählt“, halten hartnäckig an ihr fest und sind für sie verantwortlich. Solange wir uns selbst nur als Opfer definieren, andere beschuldigen und für unser Leben nicht selbst Verantwortung übernehmen, kann die Trennung nicht überwunden werden.

      Es gibt neben den Zusammenstellungen der Hauptsünden von jeher auch „Tugendkataloge“, einige davon bereits in der Bibel. Die Zusammenstellung der sieben messianischen Gaben des Geistes, die auf Jesaja 11,2 zurückgeht (Gottesfurcht, Frömmigkeit, Wissenschaft, Stärke, Rat, Einsicht, Weisheit)17, und die Aufzählung der neun Früchte des Geistes bei Paulus (Galater 5,22: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung) gehören dazu. Die bekannteste und „klassische“ Tugendliste ist die Kombination der vier „Kardinaltugenden“ des Aristoteles (Gerechtigkeit, Klugheit, Mäßigung und Tapferkeit) mit den drei „theologischen“ Tugenden aus 1. Korinther 13,13 (Glaube, Hoffnung und Liebe). Das sind die „sieben Tugenden“, die in der Kunst oftmals allegorisch dargestellt wurden (zum Beispiel am „Tugendbrunnen“ vor der Nürnberger Lorenzkirche). Geoffrey Chaucer (um 1340 – 1400), der größte englische Dichter vor Shakespeare, bietet in der „Erzählung des Pfarrers“ aus seinen Canterbury Tales eine besonders interessante Liste an: Er geht davon aus, dass es als Gegenmittel gegen jede Hauptsünde zumindest eine spezifische Tugend gibt. Damit befinden wir uns in großer Nähe zum Enneagramm, zumal die jeweiligen Entsprechungspaare bei Chaucer und im Enneagramm nahezu identisch sind.

      Die „Erzählung des Pfarrers“ in Chaucers Canterbury Tales ist eine Art Beichtspiegel. Gott möchte, dass alle Menschen gerettet werden, aber es gibt viele Wege zur himmlischen Stadt. Einer davon ist die Reue, das Beweinen der eigenen Sünden und der Vorsatz, nicht mehr zu sündigen. Es gibt lässliche Sünden und tödliche Sünden. Die tödliche Sünde besteht darin, ein Geschöpf mehr zu lieben als Gott. Für jede dieser Sünden gibt es ein Heilmittel, eine heilsame Tugend. Gegen Stolz hilft Demut, gegen Neid wahre Gottesliebe, das Kraut gegen den Zorn heißt Geduld, Trägheit wird durch Tapferkeit überwunden, Geiz durch Barmherzigkeit, Völlerei durch Nüchternheit und Mäßigung, Buhlerei durch Keuschheit. Die Beichte und die Wiedergutmachung der Schuld durch Almosen, Fasten und körperliche Schmerzen führen zu ewigen Himmelsfreuden.18

      Wir sprechen im Folgenden von den „Geistesfrüchten“, wenn wir die spezifischen Gaben oder „Tugenden“ der neun Enneagrammmuster beschreiben. Dieser biblische Begriff (Galater 5,22) knüpft wie der Begriff der Wurzelsünde am Bild des Lebensbaumes an. Jesus sagt: „Ein guter Baum bringt gute Früchte“ (Matthäus 7,17).

      Die neun Typen des Enneagramms werden – wie gesagt – im Uhrzeigersinn auf der Kreislinie eingezeichnet. Jeweils drei Typen werden zu einer Gruppe zusammengefasst.

      Figur 2: Das Enneagramm und die drei Zentren

      Die Gruppe, die ACHT, NEUN und EINS umfasst, heißt die Gruppe der „Bauchmenschen“. Ihr Gravitationszentrum liegt im Unterleib, wo das „Rohmaterial“ unserer Existenz angesiedelt ist: der Machtinstinkt, unsere Sexualität, die Triebe. In diesem Sinne spricht man auch von der Gruppe der sexuellen Typen. Sie reagieren unmittelbar und spontan auf das, was ihnen begegnet, und filtern die Wirklichkeit nicht erst durchs Hirn. ZWEI, DREI und VIER sind die „Herzmenschen“ oder die „sozialen Typen“. FÜNF, SECHS und SIEBEN schließlich bilden die Gruppe der Kopfmenschen bzw. der selbsterhaltenden Typen.

      Die deutsch-amerikanische Psychoanalytikerin Karen Horney ging ursprünglich davon aus, dass es drei Menschentypen beziehungsweise drei „neurotische Lösungen“ von Lebenskonflikten gibt: Eine Gruppe wendet sich von anderen Menschen ab, die zweite Gruppe entwickelt eine feindselige Einstellung gegen die Menschen, die dritte Gruppe wendet sich anderen Menschen zu.19 Gurdjieff unterschied drei Körperbereiche: Kopf, Herz und Bauch und ordnete ihnen unterschiedliche Arten von „Intelligenz“ zu: dem Kopf das mentale Zentrum, dem Herz das emotionale Zentrum, dem Bauch das sexuelle, instinktive und das Bewegungszentrum.20 Bei jedem Menschen dominiert einer der drei Körperbereiche. Es folgt ein erster grober Überblick über die drei Zentren. Schon an diesem Punkt wird sichtbar, dass Angehörige dieser unterschiedlichen Menschengruppen zu ihrer Ganzwerdung unterschiedliche Impulse brauchen. Wir geben deshalb schon hier erste Anregungen, welche Form von Spiritualität VertreterInnen der unterschiedlichen Gruppen helfen kann, die jeweilige Einseitigkeit zu überwinden.

       Bauchzentrum

      Die Bauchtypen21 entsprechen den „feindseligen Typen“ Horneys. Das Leibzentrum, das sie vorzugsweise regiert, ist der Verdauungstrakt und das Sonnengeflecht. Bauchmenschen reagieren instinktiv. Ohr und Nase sind ihre ausgeprägten Sinnesorgane. In einer neuen Situation sagen sie zunächst: „Hier bin ich, geht mit mir um“ – oder sie fragen: „Wie bin ich hier?“ Das Leben ist für sie eine Art Kampfplatz. Unbewusst geht es ihnen häufig um Macht und um Gerechtigkeit. Sie müssen wissen, wer das Sagen hat, sind meist direkt, offen oder versteckt aggressiv und beanspruchen ihr eigenes „Revier“. Bauchmenschen leben in der Gegenwart, hängen häufig an der Vergangenheit und erhoffen sich manches von der Zukunft. Sie tun sich aber schwer, einem klaren Plan zu folgen und ihm treu zu bleiben. Wenn es ihnen schlecht geht, geben sie sich meist selbst die Schuld: „Ich habe alles falsch gemacht. Ich bin böse.“ Bauchmenschen werden – bewusst oder unbewusst – von Aggressionen regiert. Zu ihrer Angst dagegen haben sie nur wenig Zugang. Sie wird hinter einer Fassade von Selbstbehauptung versteckt. Nach außen wirken sie meist selbstsicher und stark, während sie innerlich von moralischen Selbstzweifeln gequält werden können. Ihr erster Zugang zu Gott ist oft der Vater. Meditationspraktiken, bei denen sie ganz bei sich und in ihrem Körper sind (zum Beispiel Zen), fallen ihnen leicht. Da sie vielen „instinktiven“ Impulsen folgen, gehört zu ihrer Lebensaufgabe, dass aus dem „vielerlei lieben“ echte Liebe wird.

      

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