Simone de Beauvoir und der Feminismus. Ingrid Galster
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Zu der vierten Rolle – der der Schriftstellerin, die gerne unterschätzt wird – habe ich wenig beizutragen, es sei denn, meine Ausführungen zu Tagebuch und Korrespondenz, die allerdings nicht, wie im Falle Sartres, unter der Prämisse einer späteren Veröffentlichung abgefasst wurden. Mit dem nicht edierten Material verhält es sich vermutlich ähnlich: unter anderem 300 Briefe an die Mutter, die im April 2014 in Paris auf einer Versteigerung angeboten wurden, und 300 Briefe an Claude Lanzmann, deren Publikation sich Beauvoirs Rechtsnachfolgerin einstweilen mit guten Gründen widersetzt. Es liegen weiterhin umfangreiche, verschiedene Epochen abdeckende Tagebuch-Korpora vor, die von Sylvie Le Bon de Beauvoir in einer Sendung des französischen Fernsehens zum 100. Geburtstag Beauvoirs im Januar 2008 erwähnt wurden.
Den Abschluss des 1. Teils bilden zwei Buchkritiken, in denen ich paradigmatisch zwei Methodenansätze und zwei Haltungen zu Beauvoir und ihrem Werk einander gegenüberstelle. Wie andere Texte dieser Sammlung erschienen sie 2007 im französischen Original in Beauvoir dans tous ses états bei Tallandier in Paris. In ihrer Rezension mokierte sich die US-amerikanische Romanistin Elisabeth Ladenson über den harten Ton, den ich gegenüber der stark verbreiteten Darstellung Toril Mois anschlage. Ich stelle dem Leser/der Leserin anheim, ihrem Urteil zu folgen oder nicht.
Der 2. Teil, der den Titel »Frauen- und Geschlechterforschung« trägt, ist zunächst dem französischen Feminismus gewidmet. Die Arbeiten über dieses Thema ergaben sich aus der Beschäftigung mit Beauvoir und stehen daher in diesem Band an zweiter Stelle. Fünfzig Jahre nach Erscheinen des Anderen Geschlechts hielt ich es für angebracht, die Initiatorin der Frauen- und Geschlechterforschung in der französischen Historiografie über den Stand des Feminismus in Frankreich zu interviewen. Die Fragen konnte ich aus einem Überblick über Positionen des französischen Feminismus ableiten, den ich mir dank der genannten Vorlesung kurz zuvor für einen Sammelband verschafft hatte; er ist ebenfalls wiederabgedruckt. Bei der Beschäftigung mit dem Thema, aber auch auf dem Eichstätter Kolloquium zum 50. Jahrestag des Anderen Geschlechts wurde offenbar, dass die Historiografie des französischen Feminismus die Wechselwirkung mit US-amerikanischer Theorie völlig vernachlässigt hatte. Ich recherchierte und kam auf fünf Hin-und-her-Bewegungen zwischen 1947 und 2000, die ich im Jahre 2002 zum Gegenstand eines Vortrags auf einer Gender-Konferenz in Toulouse machte. Das in diesem Aufriss skizzierte großangelegte Forschungsprojekt mit französischer und US-amerikanischer Beteiligung konnte ich leider nicht realisieren. Ich hoffe, dass andere sich seiner annehmen.
Eine weitere Sektion des 2. Teils befasst sich mit der Situation von Frauen in der Hochschullaufbahn. Auch wenn die Verhältnisse in Frankreich nicht ideal sind, kann Deutschland einiges von dem Nachbarland lernen, wo Elitehochschulen und anonyme, landesweite Bestenauslese seit langem den Frauen Karrierewege sichern, für die sie sich nicht bei den Beauftragten von Frauenförderungsmaßnahmen bedanken müssen.
Ich schließe eine Reihe von Rezensionen zu Publikationen deutscher und französischer Frauen- und Geschlechterforscherinnen unterschiedlicher Couleur an, die meistens in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen: Die polemischsten habe ich, um nicht erneut gescholten zu werden, weggelassen. Die vollständige Liste befindet sich auf meiner Homepage.
In den 25 Jahren, in denen die Texte erschienen, gibt es eine Entwicklung, die sich nicht in ihrer Reihenfolge abbildet. Die bedingungslose Apologetin Beauvoirs, die die Nachrufe und die Aufnahme der nachgelassenen Schriften in der Presse analysierte, ist weniger bedingungslos geworden. Besonders nach der Lektüre der Erinnerungen Bianca Lamblins, der jungen jüdischen Geliebten, die Beauvoir und Sartre im Frühjahr 1940 fallenließen, konnte die Komplizität nicht aufrechterhalten werden. Auch die Universalistin, die sich uneingeschränkt zu Beauvoirs Egalitätsfeminismus bekannte, fragt sich inzwischen, ob die Differenzfeministinnen nicht doch in einigen Punkten recht haben könnten. Der von Beauvoir und Sartre vermittelten Freiheitsphilosophie hat dies jedoch keinen Abbruch getan.
Mühlheim, im September 2014
Erster Teil
I. Die vier Rollen Simone de Beauvoirs. Eine Würdigung
Sie wird am 9. Januar 1908 im Pariser Stadtteil Montparnasse geboren und stirbt am 14. April 1986 in demselben Viertel. Zwischen diesen beiden Daten spannt sich eine ungewöhnliche Biografie: atypisch für eine Frau der französischen Bourgeoisie ihrer Generation, für die Ehe und Mutterschaft das vorgezeichnete Lebensmuster waren. Infolge der Kriegsereignisse verliert die Familie ihr Vermögen. Ohne Mitgift ist eine standesgemäße Heirat nicht möglich. Simone de Beauvoir muss einen Beruf ergreifen, was sie als Frau gesellschaftlich deklassiert. Später erkennt sie, dass ihr nichts Besseres hätte passieren können.
Die konfessionellen Lehranstalten, an denen sie nach dem Besuch einer katholischen Privatschule Literatur und Mathematik studiert, stellen zumindest keine Gefahr für ihre Seele dar, aber dies ändert sich, als sie es durchsetzt, Philosophie an der Sorbonne zu belegen. Dass sie mit dieser Ausbildung zwangsläufig im laizistischen staatlichen Schulwesen unterrichten muss, ist für ihre katholischen Lehrerinnen noch schlimmer: Sie machen – so erinnert sich Beauvoir – kaum einen Unterschied zwischen einem Établissement d’État und einem Freudenhaus! Begierig, schnell unabhängig zu werden, überspringt sie ein Studienjahr. Als Spezialistin für Leibniz bereitet sie im Frühsommer 1929 den mündlichen Teil der Agrégation mit einer Gruppe Kommilitonen vor, zu der Sartre gehört, der ihr galanterweise ein Bild des Philosophen im Bade mit den Monaden überreichen lässt … Die Staatsprüfung in Philosophie ist die höchstangesehene in Frankreich. Sartre besteht sie als Erster, Beauvoir als Zweite. Diese Ränge bedeuten einen Ritterschlag in der Meritokratie, die mit der III. Republik in Frankreich Einzug gehalten hat. Beauvoir ist eine der ersten Frauen, die sich dieser Prüfung überhaupt unterziehen können.
Sie hätte gleich in den Schuldienst gehen können, nimmt sich aber zwei Jahre Auszeit, während Sartre seinen Militärdienst absolviert. Ab 1931 unterrichten beide Philosophie in den Abschlussklassen der Gymnasien, sie in Marseille, dann in Rouen, ab 1936 in Paris. Die Schule dient freilich nur dem Broterwerb. Für sie wie für Sartre gilt der fundamentale Lebensentwurf dem Schreiben. Während Sartre 1938 La Nausée veröffentlichen kann, muss Beauvoir länger warten, bis Gallimard 1943 ihren ersten Roman L’Invitée publiziert, mit dem sie gleich goncourtverdächtig wird. Frankreich ist ein besetztes Land. Das Erziehungswesen untersteht der Vichy-Regierung, die die Republik für die Niederlage verantwortlich macht und vorrevolutionäre Verhältnisse wiederherstellen will. Besonders die Lehrenden sind aufgefordert, den notwendigen Mentalitätswandel herbeizuführen, indem sie die republikanische Trias durch die Werte Arbeit – Familie – Vaterland ersetzen. Weder Sartre noch Beauvoir erscheinen dafür geeignet, was ihre Vorgesetzten richtig erkennen. Dass Beauvoir eine Minderjährige verführt hat, wessen man sie beschuldigt, kann zwar nicht bewiesen werden; dennoch wird sie unehrenhaft aus dem Schuldienst entlassen. Es reicht, dass sie unverheiratet mit einem Mann zusammenlebt, ihre Schülerinnen in die Psychoanalyse einführt und ihnen die Lektüre von Proust und Gide, die als dekadent gelten, empfiehlt. Sartre bleibt verschont.
Beauvoir schreibt vorübergehend für den Staatsrundfunk, vulgo »Radio-Vichy«, dem sie einige Features liefert. Nach der Befreiung von Paris im August 1944 kann sie von der Schriftstellerei leben, denn sie partizipiert an einem der ersten Medienereignisse der wiedererstandenen Republik, der sogenannten »invasion existentialiste«, deren Motor vor allem Sartre ist. Die Lancierung der Temps modernes, die Publikation mehrerer Romane, die wegen der Vichy-Zensur nicht veröffentlicht