Simone de Beauvoir und der Feminismus. Ingrid Galster
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Schriftstellerin
In der Rangordnung der Rollen, die Beauvoir einnahm, befindet sich jene der Schriftstellerin an letzter Stelle, vielleicht zu Unrecht. Das Konzept der engagierten Literatur, in dem das Signifikat auf Kosten des Signifikanten privilegiert wird, hat wahrscheinlich dazu geführt, die Betrachtung der Form zu vernachlässigen. Während eine Avantgarde-Autorin wie Hélène Cixous Beauvoir mit absoluter Verachtung straft, hat Roland Barthes, den man nicht unbedingt zur Arrière-Garde zählen kann, noch kurz vor seinem Tode in einem seiner letzten Interviews darauf hingewiesen, wie verführerisch neu der Stil in Beauvoirs (und Sartres) Essays war. Literatur, Philosophie und Politik, die zuvor getrennten Registern angehörten, gingen bei ihnen – zweifellos aufgrund der Phänomenologie – eine Allianz ein. Die Beschreibung des Körpers mit philosophischen Begriffen war im Deuxième Sexe derartig ungewohnt, dass man Beauvoir 1949 in Paris trotz der unterstellten Obszönität ihres Textes einer unpassenden und preziösen Oberlehrerhaftigkeit bezichtigte. Man kann sich fragen, ob die Gender-Theorie einer Judith Butler schon da wäre, wo sie heute steht, wenn Beauvoir 1949 nicht damit begonnen hätte, die Geschlechterfrage philosophisch anzugehen.
Als narrative Gattung erscheint – trotz des Intellektuellenromans Les Mandarins, für den sie 1954 den Prix Goncourt erhielt – die Autobiografie am eindrucksvollsten, insbesondere der erste Band Mémoires d’une jeune fille rangée, nicht nur wegen der gelungenen Verbindung von individuellem Lebenslauf und kollektiver Geschichte. Große Literatur entsteht unter Zwang, so auch dieser Band, in dem Beauvoir sich von einer Schuld freischreibt, Schuld gegenüber ihrer Freundin Zaza, der sie so viel verdankte und die sie sterbend allein ließ, weil ihre neue Liebesbeziehung zu Sartre sie völlig in Anspruch nahm. Starke Prosa weist auch die Verarbeitung des Todes ihrer Mutter auf, die sie nicht schätzte, weil sie sich in die konventionelle Frauenrolle ihrer Gesellschaftsschicht gefügt hatte: Sartre hat den kurzen, ungemein dichten Text, der den ironischen Titel Une mort très douce trägt, als das Beste bezeichnet, was sie überhaupt geschrieben habe. Im Augenblick des Todes ist es ihr endlich möglich, Empathie mit ihrer Mutter zu üben. Die letzten Sätze weisen über das individuelle Schicksal hinaus: »Es gibt keinen natürlichen Tod: Nichts, was dem Menschen widerfährt, ist jemals natürlich, denn seine Anwesenheit stellt die Welt in Frage. Alle Menschen sind sterblich: Aber für jeden Menschen ist sein Tod ein Unglücksfall und, auch wenn er um ihn weiß und sich fügt, ein unverdienter Gewaltakt.«
Erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5./6. Januar 2008 anlässlich des 100. Geburtstags von Simone de Beauvoir
1. Das andere Geschlecht, Fundament des egalitären Feminismus
Nicht nur zum Ende des Jahrtausends, das gerade vorbei ist, sondern auch zum Ende des Jahrhunderts ist, wie wir alle wissen, häufig Bilanz gezogen worden. Man versuchte, das zu benennen, was das 20. Jahrhundert am stärksten charakterisiert habe. Dabei fiel häufig der Begriff des Totalitarismus. Man kann aber auch anderer Meinung sein und mit der französischen Philosophin Élisabeth Badinter annehmen, dass das 20. Jahrhundert ein großer Schritt vorwärts gewesen ist in der Befreiung der Hälfte der Menschheit – der Frauen –, jedenfalls in den westlichen Gesellschaften.8 In diesem Zusammenhang wird immer wieder die 1949 erschienene grundlegende Studie zur »Lage der Frau« Das andere Geschlecht genannt, obwohl im Einzelnen die Weise, wie das Buch gewirkt hat, längst nicht untersucht ist.9 Es wurde sehr schnell nach seinem Erscheinen in zahlreiche Sprachen übersetzt: heute sind es 33. Auch ohne detaillierte empirische Rezeptionsstudien kann man stark vermuten, dass ohne Das andere Geschlecht die Feminismusdebatte mit ihren konkreten Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben nicht da wäre, wo sie heute ist. Dasselbe gilt für die Frauen- und Geschlechterforschung. Ich möchte Ihnen heute sagen, wer die Frau war, die dieses Buch geschrieben hat; wie sie dazu kam, es zu schreiben; welches die wichtigsten Thesen und ihre philosophischen Prämissen sind und wie die Aufnahme dieses Buches vor fünfzig Jahren aussah und heute aussieht.
Eine untypische Biografie
Zunächst also: Wer war Simone de Beauvoir?
Simone de Beauvoir wurde 1908 in Paris geboren in einer Familie des höheren Bürgertums, ja sogar niederen Adels – de Beauvoir –, dessen Lebensvollzug genauen Codes und sozialen Riten unterlag, die die Klassenzugehörigkeit signalisierten. Zu diesen Kennzeichen und Distinktionsmerkmalen gehörte es, dass die Frauen nicht arbeiteten, genauer gesagt: keiner Erwerbsarbeit nachgingen. Simone de Beauvoirs Lebensmuster war quasi vorgezeichnet – hätte eine Wirtschaftskrise der Familie nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie verarmte. Man konnte der Tochter keine Mitgift geben. Damit wurde eine standesgemäße Heirat unmöglich. Beauvoir musste wider die Regeln ihrer Klasse einen Beruf ergreifen, um sich selbst zu ernähren. Nichts Besseres hätte ihr, wie sie später erkannte, passieren können.10
Sie studiert Philosophie und legt 1929 im Alter von 21 Jahren ihre Staatsprüfung, die Agrégation, ab. Abgesehen davon, dass es damals kaum Frauen gab, die bis zu dieser Prüfung vordrangen – sie durften sie überhaupt erst seit 1920 ablegen –, war sie auch zu ihrer Zeit die Jüngste, die sie bestand. Sie wurde die