Simone de Beauvoir und der Feminismus. Ingrid Galster

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Simone de Beauvoir und der Feminismus - Ingrid Galster

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Penetration, Schwangerschaft, Niederkunft und Wechseljahre an. Dabei sieht sich die Frau wesentlich als Ort eines Geschehens, dessen Urheberin sie nicht ist. Die Penetration wird als gewaltsame Besitzergreifung bezeichnet, abscheulich, weil aufgezwungen. Wenn Beauvoir die innere Befindlichkeit der Schwangeren beschreibt, betont sie zwar die Ambivalenz des Gefühls. Dennoch haben sich bestimmte Formulierungen eingeprägt, die auch Frauen aufschreien ließen, etwa, wenn sie von dem Fötus als einem Parasiten spricht, einem Polypen, der sich in der Frau mästet.26 Um die Krudität dieser Beschreibungen zu erklären, reicht es nicht festzustellen, dass Beauvoir selbst nie Mutter war und eingestandenermaßen für Kinder nichts übrighatte, obwohl dies sicherlich eine Rolle spielt. Es genügt auch nicht, darauf hinzuweisen, dass sie als Phänomenologin die Gegenstände, denen sie sich beschreibend annäherte, ohne jene Gefühlsduselei erfassen wollte, was ohne Zweifel der Fall war. Die Radikalität ihrer Formulierungen muss, wie ich denke, vor dem Hintergrund des Mutterkults der Vichy-Regierung gesehen werden, deren Werte in der Öffentlichkeit diskreditiert waren, so dass Beauvoir die Legitimität auf ihrer Seite vermuten konnte. Auch die Entmythologisierung der Mutterliebe, des Mutterinstinkts, versteht man besser in diesem Kontext. Für Beauvoir ist Mut- terliebe ein soziales Konstrukt, ein Mythos, der dazu dient, die Frau an Haus und Herd zu fesseln. Sie hält es für paradox, dass man der Frau öffentliche Betätigung verweigert – wir sind in den vierziger Jahren –, aber zugleich den schwersten Beruf anvertraut, der überhaupt denkbar ist: Menschen zu erziehen! Sie fordert, dass Frauen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft mitwirken dürfen, um die Gestaltung der Realität mitzubestimmen, in die sie ihre Kinder entlassen.

      Von der Institution der Ehe hält sie nichts. Sie überführt, wie sie meint, in Rechte und Pflichten, was spontan als Austausch gelebt werden müsse und sich nicht reglementieren lasse: Keine Liebe ohne Freiheit! Wer dennoch Ehe und Familie als stabile Struktur wähle, auch um den Kindern ein Zuhause zu geben, soll zumindest das Recht auf Sexualpartner außerhalb der Ehe haben. Diese Praxis war ohnehin bei den Männern gang und gäbe; den Frauen wurde sie dagegen als Fehltritt angekreidet. Beauvoir schlägt vor, die praktizierte Heuchelei durch einen Pakt der Freiheit und Aufrichtigkeit zu ersetzen. Dass diese Form des Zusammenlebens auch nicht ganz unproblematisch war, wissen wir aus ihren Briefen und Tagebüchern.

      Am Ende ihres Durchgangs durch die Lebenschronologie der Frau steht ein Kapitel, das sie mit »Situation und Charakter der Frau« überschreibt. In ihm hält sie die wichtige Erkenntnis fest, dass Eigenschaften, die üblicherweise als Charaktermerkmale der Frau gelten, weder genetisch bedingt noch durch Hormone gesteuert sind. Vielmehr sind sie historisch erworben worden, weil die Situation, in der zu leben der Frau vorbehalten war, ein bestimmtes Verhalten nahelegte. Um zu erkennen, wie neu diese Einsichten in den vierziger Jahren waren, muss man sich in Erinnerung rufen, dass der uns heute geläufige, ja von einigen wieder dekonstruierte Gegensatz von Natur und Kultur noch nicht ins allgemeine Bewusstsein eingedrungen war. Die immer gleichen Tätigkeiten können in der Frau eine Mentalität entstehen lassen, die nichts mit angeborenen Eigenschaften zu tun hat. Resignation und Widerspruchsgeist sind Reaktionen auf ihre gesellschaftliche Lage. Um sich zu behaupten, kann sie den Männern nur widersprechen, weil sie der Welt, die von den Männern gemacht wurde, nichts Eigenes entgegenzusetzen hat. Dieser Widerspruch kann so weit gehen, dass die Frauen die männliche Logik ablehnen, die Existenz einer einzigen Wahrheit bestreiten und das Prinzip der Mehrdeutigkeit an ihre Stelle setzen.27Hier nimmt Beauvoir schon die Strategie poststrukturalistischer Feministinnen vorweg, die ab den siebziger Jahren diesen Weg einschlagen. Für Beauvoir selbst bleiben Rationalität, Logik, Eindeutigkeit universell gültig und unhintergehbar.28 Die einzig authentische Haltung in der Unterdrückung, die die Frau erfährt, ist die Auflehnung. Das Ziel ist die kollektive Befreiung. Viele Frauen versuchen allerdings, so meint sie, sich ihre Situation zu verschleiern, und richten sich in der Immanenz ein, innerhalb der Grenzen also, die die Situation ihnen auferlegt. Sie versuchen, das Gefängnis in einen Himmel zu verwandeln, die Sklaverei in Freiheit umzumünzen. Dabei unterscheidet Beauvoir drei typische Haltungen des Selbstbetrugs, denen sie einzelne Kapitel widmet.29 Auch ihr fiktionales Werk ist von solchen Frauen bevölkert, denn ihr ästhetisches Konzept ist das eines kritischen Realismus, sie führt in der Literatur keine positiven Modelle vor.30

       Perspektiven der Befreiung

      In ihrer Untersuchung macht sie sich dagegen schon Gedanken über die Voraussetzungen der Unabhängigkeit. Die erste Bedingung ist – ich sagte es –, dass die Frau sich von eigener Erwerbsarbeit ernähren kann. Eine Garantie für die Befreiung ist dies freilich noch nicht, denn die meisten – ob Mann oder Frau – verrichten entfremdete Arbeit, sie werden ausgebeutet. Beauvoir schreibt nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Land, in dem die Kapitalismuskritik angesagt war. Und so findet sich in ihrem Buch folgendes Bekenntnis: Nur in einer sozialistischen Welt kann die Frau über die Arbeit zur Freiheit gelangen!31 Wenn eingelöst wird, was die sowjetische Revolution versprochen hat, wird Chancengleichheit realisiert. 1949 glaubte Beauvoir an den Sozialismus, aber sie machte deutliche Unterschiede zwischen den sozialistischen Verheißungen und dem, was sie für realisiert oder nicht realisiert hielt. Was hatte die sowjetische Revolution versprochen? (Ich referiere Beauvoir.) Dieselbe Erziehung für Jungen und Mädchen; Arbeit unter denselben Bedingungen zu gleichem Lohn; die Ehe als freie Verbindung, die ohne Probleme aufgekündigt werden kann; Geburtenkontrolle und gleiche Rechte für Mütter und Kinder, gleichgültig, ob ehelich oder nicht; Schwangerschaftsurlaub, bezahlt von der Gemeinschaft, der die Kinder nach der Geburt überantwortet werden, ohne dass man sie deshalb den Eltern entzöge.

      Der wirtschaftliche Faktor ist die Grundlage, aber er ist nicht alleinentscheidend; er muss moralische, gesellschaftliche und kulturelle Änderungen nach sich ziehen, damit die kollektive Entwicklung eintreten kann, die Beauvoir für wünschenswert hält. Hier ist, wie mir scheint, klar das Modell des dialektischen Materialismus mit seiner Zweiteilung von Basis und Überbau zu erkennen.

      Das Buch endet mit einer Art Hymne auf die authentische Beziehung zwischen den Geschlechtern, die für Beauvoir erst dann möglich ist, wenn die Unterdrückung der Frau aufgehört hat. Ein Zitat aus den philosophischen Schriften von Karl Marx über die Beziehung zwischen Mann und Frau als Paradigma der Beziehung zwischen den Menschen signalisiert hier explizit, wo Beauvoir ideologisch angesiedelt werden will, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt. Der Kommentar zu diesem Zitat beschließt das Werk:

      Es ist Aufgabe des Menschen, dem Reich der Freiheit inmitten der gegebenen Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Damit dieser höchste Sieg errungen werden kann, ist es unter anderem notwendig, dass Männer und Frauen über ihre natürlichen Unterschiede hinaus unmissverständlich ihre Brüderlichkeit behaupten.32

       Rezeption und Wirkung

      Nicht nur dieses Zitat macht deutlich, wie sehr Das andere Geschlecht von der optimistischen Vorstellung getragen ist, dass man die Geschichte erkennen kann, dass die Menschen lernfähig sind und dass man die Wirklichkeit verändern kann – eine Vorstellung, die spätestens nach den weltpolitischen Ereignissen der achtziger Jahre für die meisten als überholt gilt, was auch auf die Rezeption dieses Buches Auswirkungen hatte. Bei seinem Erscheinen, ja schon nach dem Vorabdruck einiger Kapitel in Les Temps modernes, rief der Text allerdings zunächst einen großen Skandal hervor. Eine Frau hatte ohne Umschweife und mit allen Details einen Koitus beschrieben, und dies auf den ersten Seiten einer Kulturzeitschrift, die sich als tonangebend verstand! Der katholische Vordenker François Mauriac sah die Nation in Gefahr. Im Übrigen war es völlig neu, den Körper als Objekt philosophischer Analysen in den Blick zu nehmen: Die Rezensenten – auch Frauen – übertreffen sich gegenseitig in Ironie.33 Die eigentliche Wirkung, über deren genaue Mechanismen man allerdings heute erst spekulieren kann,34 ließ länger auf sich warten. Die zwei dicken Wälzer, deren philosophische Terminologie von vielen als sperrig empfunden wurde,35 wollten zunächst gelesen und verdaut sein. Erst in den siebziger Jahren entstand in Frankreich eine bedeutende Frauenbewegung. Inwieweit die militanten Feministinnen des Pariser MLF Le Deuxième Sexe gelesen oder auf Umwegen rezipiert hatten, ist umstritten.36 Es spricht einiges dafür, dass größere Wirkung von Beauvoirs öffentlich gelebtem Beispiel

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