Simone de Beauvoir und der Feminismus. Ingrid Galster

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Simone de Beauvoir und der Feminismus - Ingrid Galster

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ist durch nichts determiniert. Er findet sich vielmehr als reine Faktizität vor in einer Situation, die er zu überschreiten bestrebt ist. Dieses ständige Sichselbstüberschreitenwollen, das Sichlosreißen vom Gegebenen, ist für jedes Bewusstsein konstitutiv. Ich überschreite meine Situation, das mir Vorgegebene, indem ich mich im Handeln frei entwerfe. Diese Bewegung nennt Beauvoir Transzendenz. Sie macht es nun zur moralischen Verpflichtung, sich diesem Selbstentwurf in Freiheit zu stellen, der Tatsache des Nichtdeterminiertseins nicht auszuweichen. Die bewusst erlebte und realisierte Freiheit macht für sie die Würde des Menschen aus. Wer sich mit seiner Situation abfindet, ohne sich selbst frei und verantwortlich in ihr zu wählen, zu definieren, verhält sich in Beauvoirs Sinne schuldhaft. Anders als Sartre noch 1943 in Das Sein und das Nichts sieht sie allerdings auch den Fall vor, dass man an der Selbstüberschreitung gehindert, zur Immanenz gezwungen werden kann. Dies charakterisiert die besondere Situation der Frau. Wie jedes Subjekt will die Frau sich im freien Entwurf selbst begründen, aber sie muss feststellen, dass andere schon ihre Rolle festgelegt und sie zum Objekt degradiert haben. Intersubjektivität hat in Beauvoirs und Sartres Philosophie weitgehend konfliktiven Charakter. Jedes Subjekt nimmt das andere Bewusstsein immer als Objekt wahr, nur schwingt sich dieses Objekt seinerseits zum Subjekt auf, so dass zwischenmenschliche Wahrnehmung grundsätzlich ein permanentes Oszillieren zwischen Freiheit und Entfremdung ist. Anders aber im Geschlechterverhältnis: Beauvoir zufolge haben sich die Männer den Frauen gegenüber dauerhaft die Rolle des Subjekts angemaßt. Der Objektstatus ist das Besondere der Lage der Frau oder condition féminine. Wie kam es dazu und wie kann man aus der Abhängigkeit in die Unabhängigkeit kommen? Diese Fragen will sie in ihrer Schrift beantworten.

       Abgrenzung von Biologie, Psychoanalyse und historischem Materialismus

      Wenn Beauvoir von einer condition féminine spricht, so meint sie damit keineswegs ein unausweichliches Schicksal. Wäre dem so, hätte es keinen Sinn, über Möglichkeiten der Befreiung nachzudenken. Daher ist die Überschrift »Schicksal«, die sie dem Teil ihrer Arbeit gibt, den ich vorhin »Forschungsbericht« nannte, ironisch zu verstehen. Unter dieser Überschrift befasst sie sich mit der Biologie, der Psychoanalyse und dem historischen Materialismus, um sich anzuhören, was diese Wissenschaften und Theorien über die Physiologie, die Psyche und die ökonomischen Bedingungen der Frauen zu sagen haben. In der Biologie arbeitet sie sich von den Einzellern bis zum Menschen hoch. Ab den höheren Tierarten gilt: In Zeugung und Fortpflanzung verwirklicht sich der männliche Teil, während das Weibchen Schauplatz eines Geschehens ist, das sich in ihm abspielt, es aber nicht persönlich betrifft. Bereits hier ist erkennbar, dass Reproduktion und Mutterschaft eine wichtige Rolle spielen werden bei der Entfremdung, deren Gründe sie sucht. Aber zur Entfremdung müssen sie nicht zwangsläufig führen, denn Anatomie ist kein Schicksal. Sie können keine Hierarchie der Geschlechter begründen. Denn die Daten der Biologie haben für Beauvoir als solche keine Aussagekraft, sie bedürfen der Interpretation. Ob eine Frau weniger Muskeln hat als ein Mann, ist an sich noch nicht bedeutsam; die Tatsache erhält erst Sinn aufgrund ihrer Funktion innerhalb eines bestimmten Kontextes. Dasselbe gilt für Schwangerschaft und Mutterschaft. Wie sie erlebt werden, hängt Beauvoir zufolge von dem Wert ab, den man ihnen innerhalb einer gegebenen Gesellschaft beimisst.19

      Nach der Biologie nimmt sie sich die Psychoanalyse vor, ebenfalls, um die Unzulänglichkeit dieser Theorie zu zeigen, die vorgibt, erschöpfend über die Psyche der Frau Auskunft zu geben. Sie beruft sich vor allem auf Freud und antizipiert eine Kritik, die erst später breiter einsetzte. Sie zeigt nämlich, dass Freuds Theorie eindeutig die Spuren seiner männlichen Perspektive trägt. Vor allem führt Beauvoir den Penisneid an, den das weibliche Kind Freud zufolge empfindet. Es ist die moderne Version von der Frau als Mängelwesen, der Frau also, die immer nur in Relation zum Mann gedacht wird. Und selbst wenn das Mädchen neidisch auf den Penis des Jungen wäre, dann könne, so erklärt sie, das Motiv höchstens der Wert sein, der dem kleinen Unterschied als Zeichen der Männlichkeit von der Gesellschaft zuerkannt werde. Beauvoir muss aufgrund ihrer Denkposition notwendigerweise die Psychoanalyse ablehnen. Die Annahme, dass es ein Unbewusstes gibt, das mich steuert, stellt einen Determinismus dar, der mit Beauvoirs Freiheitsphilosophie unvereinbar ist.20 Der Anstoß zum Handeln geschieht nicht kausal, sondern final: Der Mensch, auch die Frau, definiert sich durch seine Ziele. Auf der Suche nach Werten in einer Welt von Werten.

      Um die ökonomische und soziale Struktur dieser Welt zu ergründen, setzt Beauvoir sich – ebenfalls kritisch – mit dem historischen Materialismus auseinander. Zwar ist auch für sie die Wirklichkeit identisch mit der Geschichte, nicht mit der Natur. Sie widerspricht aber der Vorstellung, dass es in der klassenlosen Gesellschaft, wäre sie erst realisiert, keinen Unterschied mehr gebe zwischen Männern und Frauen, weil alle nur noch Arbeiter – also gleich – seien. Wie Biologie und Psychoanalyse ist auch der historische Materialismus in den Augen Beauvoirs reduktionistisch, denn er definiert den Menschen nur über die Ökonomie. Auch in diesem Falle lässt sie die Daten, die er zutage fördert, nur gelten in dem Maße, wie der Mensch ihnen innerhalb der umfassenden Perspektive seiner Existenz Bedeutung verleiht.

       Geschichte

      Beauvoir hat also in den drei Einzelwissenschaften, die sie untersucht hat, keine Antwort auf ihre Frage gefunden, warum in der Geschichte der Mann dauerhaft zum Subjekt und die Frau zum Objekt wurde, aber sie hat jetzt das nötige Rüstzeug, um selbst diese Untersuchung durchzuführen.

      In einem beeindruckenden Schnell-Parcours von 100 Seiten durchmisst sie die abendländische Geschichte von den Urhorden bis zu ihrer Gegenwart: Häufig wüsste man gerne, aufgrund welcher Quellen.21 Die Antwort auf ihre Frage findet sie gleich zu Beginn. Auch als die Menschen noch als Nomaden umherzogen, war die Frau wesentlich mit der Reproduktion der Gattung beschäftigt, dem Gebären, der Mann dagegen mit dem Erfinden: Er eignete sich die Welt an, um das Überleben der Gattung zu sichern. Das aber ist Beauvoir und Sartre zufolge genau die Aktivität des Entwerfens und sich selbst Überschreitens, die die genuine Möglichkeit des Subjekts ausmacht. Sie umfasst auch den Einsatz des eigenen Lebens – auf der Jagd und im Krieg. Die Frau spendet Leben, der Mann tötet. Beauvoir kommt zu der verblüffenden Einsicht, dass demjenigen, der tötet, mehr Bedeutung beigemessen wird als derjenigen, die Leben zur Welt bringt.22

      Dies ist Beauvoirs existenzialistische Interpretation von Zeugnissen der Vorgeschichte, die sicherlich nicht alle überzeugt. Für die Philosophin ist Gebären lediglich Wiederholung desselben, auf der Stelle Treten, Vermehrung von Masse, wenn man so will, durch welche die Situation nicht überschritten, keine ontologische Begründung erreicht wird. Die Männer dagegen annektieren die Welt, sie modellieren die unbearbeitete Natur und erkennen sich selbst in dieser Modellierung wieder. Dies blieb den Frauen verwehrt. Sie mussten in einer Position verharren, die ihnen die Subjektwerdung unmöglich machte.

      Auch als die Nomaden sesshaft werden, bleiben die Frauen Objekte. Zwar werden die Kinder aufgewertet, die Gemeinschaft erkennt sich in ihnen als Erben des Territoriums. Beziehungen auf Gegenseitigkeit gehen aber nur Männer miteinander ein. Die Frauen gehören zu den Gütern, die sie besitzen. Beauvoir stützt sich hier offenbar auf Friedrich Engels’ Schrift über den Ursprung der Familie, auch die ethnologischen Schriften von Claude Lévi-Strauss, beide durch das existenzialistische Filter gesehen. Aus Zeitgründen kann ich nicht im Einzelnen darstellen, wie die zunehmende technische Beherrschung der Natur Beauvoir zufolge das Geschlechterverhältnis immer neu modifiziert, ohne jedoch grundlegend etwas an der Subjekt-Objekt-Beziehung zu ändern. Beauvoir liest das an antiken Mythen ab, bald gibt es auch Zeugnisse wie das Zitat von Pythagoras, das sie ihrem Buch vorangestellt hat:

      Es gibt ein gutes Prinzip, das die Ordnung, das Licht und den Mann geschaffen hat, und ein böses Prinzip, das das Chaos, die Finsternis und die Frau geschaffen hat.

      Als Kommentar dazu kann man das angefügte Motto des französischen Frühaufklärers Poullain de la Barre lesen:

      Alles, was von Männern über Frauen geschrieben wurde, muss verdächtig sein, da sie zugleich Richter und

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