Simone de Beauvoir und der Feminismus. Ingrid Galster
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Jede freie Minute, die ihr der Unterricht lässt, wird also ins Schreiben investiert. Wenn in Briefen oder Tagebuchnotizen aus dieser Zeit der Begriff »Arbeit« auftaucht, dann ist nicht etwa die Schule gemeint, sondern der Roman, den sie gerade schreibt. Die dreißiger Jahre ziehen sich endlos lang in Etüden hin, die sie entweder selbst verwirft oder die von den Verlagen abgelehnt werden. Einige Feministinnen behaupten heute, Beauvoir habe besondere Schwierigkeiten gehabt, sich auf dem literarischen Markt durchzusetzen, weil sie eine Frau war.11 Dabei entgeht ihnen, dass auch Sartre in den dreißiger Jahren lange auf der Stelle trat, bis ein Freund dem Verlag Gallimard seinen ersten Roman ans Herz legte, mit dem er in der Pariser Literaturszene eine Art Geheimtipp wurde. Beauvoir musste länger warten, bis ihr erster Roman erschien. Inzwischen war der Krieg ausgebrochen und Frankreich von den Deutschen besetzt. Im August 1943 publizierte Gallimard L’Invitée (deutsch Sie kam und blieb). Beauvoir hatte gerade ihre Stelle als Lehrerin verloren. Der Anlass für die Suspendierung war das Leben, das sie führte, und der Unterricht, den sie erteilte. Die mit den Deutschen kollaborierende Regierung von Vichy, der das Erziehungswesen unterstellt war, verteidigte andere Werte als vorher die Republik.12 Die von der Französischen Revolution proklamierten Menschenrechte – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (oder besser: Solidarität) – waren diskreditiert. Der antirepublikanische Vichy-Staat, der vorrevolutionäre Verhältnisse wiederherstellen wollte, hatte sie durch Arbeit, Familie, Vaterland ersetzt. Beauvoir erregte als Lehrerin Anstoß, weil sie weder in ihrer Lebensführung noch in ihrem Unterricht diese Werte mittrug: Sie war kein Vorbild. Denn sie lebte in »ungeordneten Verhältnissen«: Sie besaß kein »Heim«, wohnte im Hotel, korrigierte Klassenarbeiten im Café und hatte einen Geliebten. Überdies empfahl sie ihren Schülerinnen die Lektüre von Proust und Gide, Autoren, die als dekadent galten. Weiterhin informierte sie sie über die Psychoanalyse und forderte sie auf, sich eine psychiatrische Anstalt von innen anzusehen. All das war für damalige Verhältnisse nicht tragbar, denn Beauvoir unterrichtete zuletzt zukünftige Lehrerinnen, die die Vichy-Ideologie an ihre Schülerinnen weitergeben sollten. Beauvoirs Erziehung trug sicher nicht dazu bei, ihre Schülerinnen von der Bedeutung der Familie und der Mutterschaft zu überzeugen.
Genese
Die Dokumente, die ich hier resümiert habe, sind erst seit Anfang der neunziger Jahre bekannt.13 Ich denke, die unehrenhafte Entlassung aus dem Schuldienst im Namen von Werten, die nicht die ihren waren, gehört zu den Ursachen, die sie einige Jahre später dazu treiben, gegen ebenjene Werte in ihrem Buch über die Lage der Frauen anzuschreiben. Nach der Befreiung Frankreichs ist die Vichy-Ideologie nämlich ihrerseits in Ungnade gefallen. Nun triumphiert wieder die republikanische Trias, von der Beauvoirs Thesen getragen sind: Freiheit – Gleichheit – Solidarität.
Beauvoir selbst hat den Zusammenhang, den ich hier etabliert habe, nicht hergestellt, als sie sich in ihrer Autobiografie zur Genese des Anderen Geschlechts äußerte. Da sie nicht mehr unterrichtete, war sie seit 1943 als Schriftstellerin ungeheuer produktiv. Dass ihre Schriften – anders als in den dreißiger Jahren – sofort Interessenten, d. h. Verlage fanden, hat mit der existenzialistischen Mode zu tun, die nach der Befreiung Frankreichs massiv einsetzte. Was eigentlich diese Mode auslöste, dafür gibt es verschiedene Erklärungen.14 Die Forschung ist sich in jedem Fall einig darüber, dass man von ca. Mitte der vierziger bis Mitte der fünfziger Jahre im literarischen und intellektuellen Feld Frankreichs von einer existenzialistischen Hegemonie sprechen kann.15 Beauvoir schrieb und publizierte in kürzester Zeit zwei weitere Romane, philosophische Essays sowie ein Theaterstück und wirkte an der Gründung und Herausgabe einer Zeitschrift mit, Les Temps modernes, die den Intellektuellen neue Wege weisen wollte. Frankreich lag nach dem Krieg wirtschaftlich darnieder, das einzige wirklich bedeutende Exportgut waren die Produkte der Schriftsteller. So befand Beauvoir sich häufig im Ausland, um Vorträge zu halten, mehrfach auch monatelang in den USA. Inmitten dieses Trubels entstand Das andere Geschlecht – in Stücken, die nachher zu einem Ganzen zusammengefügt wurden. Die im Februar 1997 bei Gallimard erschienenen Briefe an den amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren sind dafür höchst aufschlussreich.16
In ihrer Autobiografie hört sich die Genese ihres Buches äußerst logisch an.17 Eines Tages, so notiert sie, hatte sie wieder einmal einen Text fertig und wusste nicht, was sie als nächstes Thema angreifen sollte. Sie habe Lust gehabt, über sich selbst zu schreiben. Als Philosophin ging sie die Frage systematisch an: Was hatte es für sie bedeutet, eine Frau zu sein? Im Grunde gar nichts – zu dem Schluss kam sie zunächst, denn nie habe ihr jemand ein Gefühl der Unterlegenheit vermittelt: Unter ihren Kommilitonen und Kollegen war sie anerkannt wie ein Mann. Die republikanischen Institutionen, vor allem die anonymen Concours, die effektiver als in Deutschland für Chancengleichheit im Erziehungswesen sorgen, hatten dies möglich gemacht. Sartre, mit dem sie alle Projekte besprach (wie er seine Projekte mit ihr besprach), habe ihr jedoch zu bedenken gegeben, dass sie als Mädchen anders erzogen worden sei als ein Junge. Verlässt man sich auf Beauvoirs Erinnerung, so gab diese Bemerkung den Ausschlag. Sie ging ihr nach und war selbst am meisten erstaunt über das, was sie entdeckte: Die Welt, in der sie seit nunmehr fast vierzig Jahren lebte, war eine männliche Welt, ihre Kindheit war von Mythen geprägt, Mythen, die von Männern gemacht worden waren und auf die sie anders reagiert hätte, wenn sie ein Junge gewesen wäre. Beauvoir gab ihr autobiografisches Projekt zunächst auf und befasste sich mit der Lage der Frau im Allgemeinen. Mit der ihr eigenen Arbeitswut und Gründlichkeit las sie sich in kürzester Zeit durch alles hindurch, was die Pariser Bibliotheken für ihr Thema zu bieten hatten. Ich gehe nicht weiter auf die Genese ein und stelle Ihnen das Ergebnis vor.
Aufbau
Ganz einfach ist es allerdings nicht, auf gedrängtem Raum die Quintessenz der gut 900 Seiten zu präsentieren, die das Werk in der deutschen Neuübersetzung aus dem Jahre 1992 umfasst. Ich werde mich auf die Erkenntnisgrundlagen und die Kernaussagen konzentrieren.
Auch wenn es, wie ich sagte, eine Zusammenfügung von Stücken ist, die erst im Nachhinein zu einer Einheit verschmolzen wurden, weist das Buch einen systematischen Aufbau auf. Es wird fast akademischen Ansprüchen gerecht, obwohl es von vornherein für eine breitere Öffentlichkeit geschrieben wurde. Ich sage »fast«, weil es sehr wenig Nachweise enthält, d. h. Fußnoten. In Sartres theoretischen Schriften ist es übrigens genauso. Von Zettelkästen haben beide nicht viel gehalten; sie hatten alles im Kopf.
Einer Einleitung, in der Beauvoir ihre Erkenntnisprämissen offenlegt,18 folgt eine Art Forschungsbericht, in der sie die Wissenschaften und Theorien kritisch Revue passieren lässt, die sich mit Körper, Psyche und Geschichte der Frau befassen. Dann widmet sie das restliche erste Buch zum einen der konkreten Geschichte der Frauen, um mit Hilfe ihres eigenen philosophischen Ansatzes die Ursachen ihrer Unterdrückung genauer zu begreifen, und zwar von der Vorgeschichte bis zu ihrer unmittelbaren Gegenwart. Zum anderen geht sie auf die Mythen oder Bilder ein, die Männer von Frauen konstruiert haben, um sie, wie Beauvoir meint, ihren Zwecken dienstbar zu machen. Den Fakten und den Mythen des ersten Bandes folgt im zweiten Band die gelebte Erfahrung der Frauen. Die Perspektive des ersten Bandes wird umgekehrt. Nunmehr wird aus der Sicht der Frauen die Situation geschildert, in der sie sich in ihren verschiedenen Lebensphasen – von der Wiege bis zur Bahre – vorfinden, eine Situation, der sie sich stellen, die sie sich aber auch verschleiern können. Am Ende ihrer Untersuchung zeigt Beauvoir Perspektiven der Befreiung auf.
Erkenntnisprämissen
Das also ist der Aufbau von Beauvoirs Werk. Beginnen wir nun mit den Erkenntnisprämissen. Beauvoir nennt ausdrücklich als Grundlage ihres Denkens eine »existenzialistische Ethik«. Was ist darunter zu verstehen? Der Existenzialismus ist eine dezidiert atheistische Philosophie. Der Mensch, das Bewusstsein ist