Simone de Beauvoir und der Feminismus. Ingrid Galster

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Simone de Beauvoir und der Feminismus - Ingrid Galster

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Jahren in Frankreich wie in Deutschland eine wesentlich größere Rolle im Leben der Einzelnen spielte als heute. Wer sich von der Amtskirche löste, konnte aber durchaus Christ bleiben wie Jean-Marie Domenach, der spätere Direktor der einflussreichen linkskatholischen Zeitschrift Esprit, dessen Stellungnahme zu der Meinungsumfrage damals großes Aufsehen erregte. Er fordert nämlich, nach den Entdeckungen der Psychoanalyse und den Ergebnissen des Kinsey-Reports (der gerade in französischer Übersetzung erschienen war) die Kategorien des Normalen und des Anormalen auf dem Gebiet der Sexualität einer Revision zu unterziehen. Und er verteidigt Beauvoir, die inzwischen dem skandalträchtigen Kapitel über die Sexualität noch eins draufgesetzt hatte, indem sie in der Juni-Nummer der Temps modernes das Kapitel über die »Lesbierin« und den Anfang des Kapitels über die Mutterschaft veröffentlichte, in dem es ausschließlich um die Abtreibung geht. Jean-Marie Domenach schreibt:

      Ich glaube, dass die Christen, die Simone de Beauvoir unter dem Vorwand der Erotik und der Obszönität angreifen, sich völlig irren. Weder Gelächter noch Missbilligung sind als Reaktion angemessen; vielmehr müssen wir aufmerksam zuhören und dürfen uns nicht drücken, denn letztlich hängt es stark von uns und unserer Kirche ab, dass diese Unruhe und diese Suche, soweit sie authentisch sind, aufrichtig angegangen und nicht pervertiert werden.47

      Der Verfasser dieses Zitats muss nicht nur von Mauriac selbst Schelte einstecken, sondern auch von dem jungen Rechtsintellektuellen Pierre de Boisdeffre, der in Mauriacs Augen die Inkarnation einer noch sittlich unverdorbenen Jugend war. Er schreibt:

      Der Erfolg des Anderen Geschlechts bei Tunten und sexuell Erregten jeder Couleur bringt Jean-Marie Domenach um den Schlaf, behauptet er doch allen Ernstes, in der unbezahlbaren Pseudo-Gelehrtheit dieses Fräuleins eine »Lehrveranstaltung über normale Sexualität« zu sehen.48

      Der Verfasser trauert bodenständigen alten Traditionen nach, einem Gleichgewicht in den lateinischen Ländern, in denen die Liebe, wie er schreibt, der natürlichste aller Akte war.

      Das Erscheinen des 1. Bandes, der weniger Anstoß erregte als die vorveröffentlichten Kapitel des 2. Bandes, beruhigt vorübergehend die Gemüter. In einem Interview mit Alice Schwarzer hat Beauvoir übrigens später die Vorveröffentlichung als Ungeschicklichkeit bezeichnet. Man kann also annehmen, dass es kein bewusster Werbetrick war. Die Illustrierte Paris-Match druckt Auszüge aus dem 1. Band in zwei Augustnummern ab. »Eine Frau ruft die Frauen zur Freiheit auf«, lautet die Schlagzeile, und in der Einleitung ist zu lesen:

      Simone de Beauvoir, Leutnant Jean-Paul Sartres und Existenzialismus-Expertin, ist zweifellos der erste weibliche Philosoph, der in der Geschichte der Männer erscheint. Es kam ihr zu, aus dem großen Abenteuer der Menschheit eine Philosophie ihres Geschlechts zu extrahieren.

      Man erfährt im Übrigen, dass der Band eine Banderole mit der Aufschrift »Die Frau, das unbekannte Wesen« trug, und man sieht Beauvoir und Sartre auf einem Photo im Cafe de Flore sitzen.49

      Ob der Skandal nun gewollt war oder nicht: Er führt dazu, dass allein in der ersten Woche 22.000 Exemplare von Band 1 verkauft werden. Dass das Buch viel gelesen wird, heißt aber längst nicht, dass man es auch verstünde. Ein Anglistik-Professor der Sorbonne, der sich in den Pariser Medien ein Zubrot verdient, sitzt ziemlich ratlos vor Beauvoirs Prosa, die ihm zu objektiv-kalt erscheint: Wie bloß soll das Lesepublikum »erschüttert« werden, wenn eine Frau, die über die Frau schreibt, dies nicht »als Frau« tut?50 Einem Literaturwissenschaftler zufolge, der sich ebenfalls ein Zubrot verdient, schreibt Beauvoir gerade, um sich von der Erniedrigung, Frau zu sein, zu befreien. Aber er hält das Unternehmen für aussichtslos, denn, so meint er: »Letzten Endes ist Simone de Beauvoir doch als Frau geboren, und ich sehe nicht recht, was sie daran ändern könnte. […] Das Schicksal lässt sich doch nicht verleugnen.«51 Beide Kritiker sind nicht nur Absolventen der Universität, sondern der französischen Elitehochschule École normale supérieure. Ihre Reaktion zeigt eindeutig, dass 1949 der Unterschied von Natur und Kultur nicht einmal Gelehrten ihres Ranges geläufig ist. Darauf jedenfalls hat später die Sozialistin und Feministin Colette Audry, die in den dreißiger Jahren zusammen mit Beauvoir in Rouen unterrichtete, einen Teil der Missverständnisse zurückgeführt, von denen die Aufnahme des Buches bei der Kritik geprägt war.52

      Die Veröffentlichung des 2. Bandes im November erregt erneut die Gemüter. Der Literaturkritiker des Figaro littéraire geniert sich für die »Bacchantin«, die ihre Grenzen überschritt, als sie es wagte, über die sexuelle Initiation zu schreiben. Er sucht im Übrigen verzweifelt um sich herum die »Herden von Sklavinnen, deren Existenz unter männlichem Imperialismus je zur Hälfte der Verrichtung niedriger Arbeiten und der Lustbarkeit der Männer gewidmet« sei: Sind die Frauen, so fragt er, denn in Wirklichkeit nicht befreit? Der »Penthesilea von Saint-Germain-des-Prés« bringt er die unendlichen Bereicherungen in Erinnerung, die die Selbsthingabe nach sich zieht, besonders für die Frau, wie er unterstreicht, denn diese sei durch ihre Natur stärker für die Hingabe prädestiniert als der Mann. Beauvoir will, wie er glaubt, die Liebe ruinieren, um an ihre Stelle den Plaisir, also schieren Sex zu setzen.53 Er war nicht der Einzige, der dies annahm, und Beauvoir hat sich in ihrer Autobiografie gegen diese Unterstellung gewehrt.54

      »Die Rechte musste notwendigerweise mein Buch hassen«, schrieb Beauvoir im Rückblick. »Ich hoffte auf eine positive Aufnahme bei der extremen Linken«55 – d. h. bei den Kommunisten. Dies erwies sich als großer Irrtum. Die Rezensentin der führenden kommunistischen Wochenzeitung stellt sich vor, wie die Konsumenten von Pornoliteratur sich auf die Zeitungskioske stürzen, um frustriert über das unverständliche Kauderwelsch der Philosophin den Rückzug anzutreten. Sie malt ihren Leserinnen und Lesern auch den unbeabsichtigten Lacherfolg aus, den Beauvoir bei den Arbeiterinnen der Renaultwerke erringe, wenn sie ihnen ihr philosophisch hochgestochenes Befreiungsprogramm vortrage.56 In einer anderen kommunistischen Wochenzeitung wird die Besprechung des Buches mit einem Photo illustriert, auf dem ein als Frau verkleideter Mann einen Gorilla küsst.57 Die quasi offizielle Exekution Beauvoirs findet später in einer kommunistischen Kulturzeitschrift statt, dem Organ des militanten Marxismus, unter Rückgriff auf Leninzitate. Auch hier rezensiert eine Frau. Der Feind, so steht es zu lesen, ist nicht der Mann, sondern der Kapitalismus. Eine Rivalität zwischen Männern und Frauen heraufzubeschwören bedeute, den tatsächlichen Problemen auszuweichen, nämlich dem Elend der Arbeiterklasse und dem drohenden Krieg. (Hier muss man sich in Erinnerung rufen, dass sich der Konflikt zwischen den Blöcken seit 1947 verschärft hatte. Das andere Geschlecht erscheint mitten im sogenannten »Kalten Krieg«.) Wer die Reaktionen des Kleinbürgertums – so die Rezensentin weiter – durch den entstellenden Spiegel einer Philosophie des Ekels hindurch analysiere, verachte in Wirklichkeit das andere Geschlecht. Die Freiheit, die Beauvoir fordert, ist für die Stalinistin wie für die konservativen Katholiken identisch mit Willkür, die Liebe wird auf den Instinkt und die Animalität reduziert. Aber schlimmer noch: Die Ablehnung der Mutterschaft als selbstverständliches Schicksal dient der Kommunistin zufolge nicht nur der Kriegspropaganda – wo keine Kinder sind, sind keine Soldaten –; sie zeigt auch, wie sehr die Existenzialistin, in einem monströsen Individualismus verbarrikadiert, unfähig dazu ist, das natürlichste Gefühl aller Frauen zu kennen. Die wirkliche Befreiung der Frau, man ahnt es, ist nur im Sozialismus möglich.58

      Für die französischen Kommunistinnen im Kalten Krieg stellt die Situation der Frauen keinerlei Problem dar. In der Partei liest fast niemand das Buch, wie sich eine bekannte kommunistische Intellektuelle erinnert, die früh die Zeichen der Zeit erkannte und zum Liberalismus überwechselte. »Das hat mich überhaupt nicht interessiert«, sagte sie einer Autorin, die ein Buch über die Frauen in der französischen KP schrieb. »Für unsere Generation [sie war 1926 geboren] waren diese Emanzipationsprobleme völlig überholt: Wir waren nicht das andere Geschlecht«.59 Auch Beauvoir fühlte sich selbst ja keineswegs unterdrückt. Die demokratischen Instrumente des französischen Republikanismus hatten ihr einen Rang gesichert, den auch ihre männlichen Freunde achteten – in Deutschland wäre das nicht so leicht möglich gewesen.60 Beauvoir hatte ihre Studie auf rein theoretischer Ebene intendiert, aber als sie begann, Material zu

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