Meines Vaters Straßenbahn. Eberhard Panitz

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Meines Vaters Straßenbahn - Eberhard Panitz

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ich mich über die Begegnung mit meinem Vater an diesem Ort und zu dieser Stunde wunderte, sein Äußeres war mir vertraut. Er trug wie vor dem Krieg seine dunkelgrüne Straßenbahneruniform; die Knöpfe, Abzeichen und Kragenspiegel blitzten, besonders die kleine goldene Straßenbahn an der Schirmmütze. An einem Lederriemen hing die blankgeputzte Wechselkasse, mit der ich als Kind spielen durfte, wenn er vom Dienst nach Hause kam. Die Geldscheine und Markstücke hatte er ordnungsgemäß auf dem Trachenberger Depot abgerechnet, Fünfpfennig- und Groschenstücke zu Rollen verpackt, doch die abgerissenen Fahrscheinblocks und die Ein- und Zweipfennigstücke überließ er mir. Ich rückte die Stühle zusammen, setzte Teddybären und Kasperpuppen darauf, lief wie in einem Straßenbahnzug von Fahrgast zu Fahrgast, drückte auf die Hebel, kassierte, wechselte, ließ das Geld herauskullern, steckte es wieder hinein und kannte nichts Schöneres, keinen anderen Beruf, den ich eines Tages wählen wollte. Es war auch immer selbstverständlich gewesen, daß Vater von Mutter und mir Fahrgeld verlangte, wenn wir einmal in seinen Straßenbahnwagen stiegen. »Es muß alles seine Richtigkeit haben«, sagte er. »Falls ein Kontrolleur kommt, möchte ich nicht als Betrüger dastehen, zu allerletzt vor euch.«

      Doch an diesem trüben Abend war es anders, ich hatte meine Meinung in manchem geändert, mich für einen anderen Beruf entschieden und an die neuen Verhältnisse gewöhnt, die im Stadtverkehr herrschten. In Berlin fuhr ich meist mit der S- oder U-Bahn, die Straßenbahnen kamen im Autogewühl zu langsam voran, außerdem waren auf den Perrons wegen des Personalmangels Zahlboxen angebracht worden, und den Beruf des Schaffners gab es überhaupt nicht mehr. Irgend etwas in mir sträubte sich dagegen, das meinem Vater zu sagen, der ja zeitlebens Schaffner und gewiß dabei glücklich gewesen war, wenn man von dem geringen Lohn, 120 Mark im Monat, und dem unregelmäßigen Dienst absah. Manchmal verwünschte er die Nachtfahrten, bei denen die Züge so gut wie leer waren, oder den Sonntagsdienst, wenn er gern mit uns Spazierengehen oder in Tante Lottes Garten Stachel- oder Johannisbeeren pflücken wollte, die er gern aß. Er aß überhaupt sehr gern, reichlich und mit Genuß; alles, was Mutter auf den Tisch brachte, lobte er überschwenglich. In der Not-Zeit nach dem Krieg dagegen kam es wegen der Esserei zu Zank und Streit, als er ausgehungert, abgemagert zu einem Skelett aus der Kriegsgefangenschaft hinterm Ural zurückgekehrt war und oft über das letzte Brotstück herfiel.

      Das hatte mich und meinen kleinen Bruder Achim, der kurz nach Kriegsbeginn geboren wurde, unseren Vater also nur als Soldaten kannte, nicht als Straßenbahnschaffner mit der Wechselkasse, die leider vor der Einberufung abgeliefert werden mußte, erschreckt. Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft warteten wir beide darauf, auch Mutter, daß Vater wieder seine Straßenbahneruniform anzog und die Kasse umschnürte, sie dann mit nach Hause brachte, damit alles wie früher war. Es hätte sogar noch schöner sein können, weil mein Bruder mitspielen und schon das Geld zählen konnte, er kam bald zur Schule und begriff sehr schnell, was ich ihm beibrachte. Aber Vater hockte erst einmal monatelang zu Hause, weil er einfach keine Kraft und Lust zur Arbeit hatte, sprach kaum ein Wort mit meinem Bruder und mir. Und Mutter war dauernd unterwegs, sogar am Wochenende, um irgendwo auf dem Land ein paar Bettlaken, Kopfkissen oder Handtücher gegen Kartoffeln, Brot oder wenigstens Haferkörner einzutauschen, die ich dann mit dem Hammer zu Flocken zerklopfte. Nicht einmal dazu raffte sich Vater nach seiner Heimkehr auf.

      »Bist du mir noch böse?« fragte mein Vater, als sich der Rauch verzogen und die Bahn schon weit von der Brücke entfernt hatte – in welcher Richtung, darauf achtete ich jetzt nicht. Ich saß da und starrte ihn an, stumm wie ein Fisch, doch böse oder nachtragend war ich nicht, obwohl ich mich deutlich an alles erinnerte, was sich damals bei uns zu Hause zugetragen hatte. Er schien zu wissen, wo die Schuld zu suchen war, daß schließlich Mutter vollends ihre eigenen Wege ging und immer öfter von Hinauswerfen, Scheidung, von Schluß und Ende sprach. Sie war achtunddreißig Jahre, eine schöne, dunkelhaarige Frau, der viele Männer nachliefen, ihr auch manchmal Geschenke brachten, Kostbarkeiten wie Schokoladentafeln, Pralinen oder Biskuits, die sie uns beiden Jungen heimlich zusteckte. Einmal riß mir Vater ein dick mit Butter und Leberwurst bestrichenes Brötchen aus den Händen, das sie mir gegeben hatte, und aß es gierig auf. »Sei still!« schrie er Mutter an, die so entsetzt war, daß sie gar keine Worte fand. »Ihr hättet mal erleben müssen, was ich erlebt habe, seid bloß still.«

      Vor dem Krieg tranken wir abends Tee, am Sonntag mit einem Schluck Rum und viel Zucker, ich bekam auch eine Tasse eingeschenkt. Wenn ich ins Bett mußte, bat ich darum, die Schlafzimmertür offen lassen zu dürfen. Ich hörte dann noch eine Weile, wie sich meine Eltern leise unterhielten. Vater sprach bedächtig, meist über ein und dasselbe: »Wir haben´s wirklich gut mit unsrer Laterne vorm Fenster, dadurch sparen wir viel Strom.« Die Stubenlampe wurde ausgeschaltet, es war hell genug, um lesen zu können, ohne sich die Augen zu verderben. Meine Mutter hatte eine Menge Bücher mit in die Ehe gebracht, Memoiren von Fürstentöchtern, Liebesgeschichten, auch zerlesene Romane, die sie oft hervorholte, sonst erfolglos vor mir versteckte, darunter vieles von Zola, auch »Moll Flanders«, »Die Kameliendame«, »Anna Karenina«, meine Lieblingsbücher. Es fiel immer genug Licht ins Schlafzimmer, daß ich unter der Bettdecke schmökern und die wenigen Worte aufschnappen konnte, die meine Eltern nebenan wechselten. »Jetzt mach die Tür zu, der Junge schläft längst«, sagte Vater nach einer Weile. Er hörte Radio, Musik oder den Bericht von einem Boxkampf. Für die Nachrichten, die er »Gequatsche« nannte, interessierte er sich nicht, auch nicht für Zeitungen oder Mutters Bücher, deshalb kam er nie auf die Idee, daß ich mit der »Kameliendame« ins Ehebett hinüberkletterte und die Nachttischlampe einschaltete und stundenlang brennen ließ. »Wie das bloß kommt, wir haben so gespart«, sagte er verwundert, wenn die Stromrechnung höher als erhofft ausfiel. »Ob sie uns da reinlegen, oder bezahlen wir am Ende die Laterne mit?«

      Nein, wir waren Vater nicht böse, daß er sparsam und sogar geizig war. Meine Eltern hatten beide mit jedem Pfennig rechnen müssen, seit sie zusammen waren, obwohl auch Mutter immer arbeiten ging. Zuerst war sie Lehrling und Mädchen für alles bei der Firma Döring gewesen, einer Seifengroßhandlung am Bahnhof Mitte, die selber nie recht auf einen grünen Zweig kam. Meine Mutter zog mit einem Handwagen in der Stadt umher und belieferte kleinere Läden mit Waren, kassierte Rechnungen, bekam wenig Trinkgeld. Während der Inflation war manchmal ihr Wochenlohn am nächsten Tage auch nicht mehr als ein Trinkgeld wert. Später fand sie eine Aushilfsstellung im Kaufhaus Renner am Altmarkt, gleich rechts im Erdgeschoß, neben der Windflügeltür, in der Parfümerie. Es roch gut dort, die vielen hübschen Verkäuferinnen waren nett zu mir, wenn Vater mit mir hinkam, um Mutter abzuholen. Ich lief gleich hinter den Ladentisch und drängelte, daß sie Schluß machte und mit mir die Rolltreppe zur Spielzeugetage hochfuhr, zu den Dingen, die ich hier in den Regalen bestaunen konnte: all diese schießenden, kämpfenden Indianer- und Soldatenfiguren, galoppierenden Pferde, Fuhrwerke, Häuser, Zelte, Eisenbahnen – und wenn es kurz vorm Geburtstag oder Weihnachtsfest war, mußte ich mit Vater beiseite gehen, und Mutter kaufte etwas, irgendeinen Cowboy auf springendem Pferd mit einem Lasso, das man auswerfen und festziehen konnte. »Hat er so was nicht schon?« fragte Vater kopfschüttelnd, wenn Mutter ihn um Geld bat. »Er braucht viel nötiger was zum Anziehen.«

      Auf ordentliche Kleidung achtete Vater sehr, seine Straßenbahneruniform war immer adrett, gebügelt und gebürstet, die Schuhe, Taschen und Riemen glänzten, auch an diesem regnerischen Abend in Berlin, als wäre er von der Haustür weg mit der Bahn gefahren und niemals ausgestiegen, um älteren Leuten beim Einsteigen zu helfen und »Fertig!« zu rufen und auf seiner Trillerpfeife zu pfeifen. Er war in den vielen Jahren nicht gealtert, sein Gesicht glatt, faltenlos, sorgfältig rasiert, das schwarze Haar gescheitelt, straff nach hinten gekämmt, ohne eine Spur von Grau. Wie immer trug er ein weißes Hemd unter der Uniform, das wechselte er jeden Tag. Nach Feierabend zog er eine ausrangierte Uniformhose an und die braune Hausjacke darüber, legte sich auf die Couch und sagte: »Laßt mich meine Fuffzehn machen«, schlief eine halbe oder dreiviertel Stunde fest und mit leisem Schnarchen, kleidete sich dann erst richtig an: Anzug, einen Schlips zum weißen Hemd und Staubmantel, Hut, sobald er das Haus verließ. Er besaß nur ein, zwei Anzüge und diesen eleganten Mantel, doch der war vom Schneider, der Stoff beste Qualität, die Schuhe wie lackiert, stets von ihm selbst »geflimmert«, wie er sagte, und repariert, sobald

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