Meines Vaters Straßenbahn. Eberhard Panitz
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Einen von Mutters Brüdern, den Leipziger Onkel Hans, konnte mein Vater auf den Tod nicht leiden, weil er mit Figuren und Reliefs aus einer merkwürdig riechenden Kunststoffmasse handelte: Soldaten im Kampf, SA-Männer auf dem Marsch, bekannte Jagdflieger und U-Boot-Kommandanten und Hitlerjungen mit wehenden Hakenkreuzfahnen, alles braungefärbt. »Dieser Dieb und Halunke, jetzt macht der solchen Mist zu Geld«, sagte er zu Mutter und geriet heftig mit ihr aneinander. Sie entgegnete: »Sei still!« und verbat es sich, so von ihrem Bruder zu sprechen, noch dazu in meiner Gegenwart. Der Hans habe es schwer genug im Leben gehabt und endlich einen festen Halt gefunden. »Du hast ja keine Ahnung«, ereiferte sie sich, »wie schwer es ist, nach einem Fehltritt in der Jugend wieder hochzukommen.« Am Abend, hinter der angelehnten Schlafzimmertür, hörte ich, daß der Streit noch lange weiterging. Denn Mutter wollte das mit dem »Dieb und Halunken« um keinen Preis auf ihrem Bruder sitzenlassen. Sie behauptete, ihn besser zu kennen als jeder andere Mensch auf der Welt, er habe nie Schlechtes getan, nur immer Pech gehabt, alles sei nur eine unglückliche Verkettung von Umständen gewesen, aus der er sich endlich gelöst habe. »Wäre er denn der erste, den sie unschuldig eingesperrt hätten?« rief sie empört. »Du kümmerst dich um nichts, liest keine Zeitung, hörst keine Nachrichten, redest mit niemandem, der was zu sagen hat, sondern rümpfst nur die Nase, wenn dir was nicht paßt.« Sie schwor darauf, daß ihr Bruder die Schmucksachen und Pelze damals nicht aus der Altstädter Villa gestohlen habe, wie es ihm vorgeworfen worden war. Es habe zwar alles gegen ihn gesprochen, und die Polizei sei auch kurz danach auf seine Spur gekommen, weil das Dienstmädchen, eine dumme Göre, mit der er verlobt war, etwas von einem verschwundenen Schlüssel und einer Verabredung gefaselt habe, wodurch sie angeblich aus dem Hause gelockt worden wäre. Aber Hans behauptete, auch später in seinen Briefen an die Familie und unzähligen Gnadengesuchen, er habe nie einen Schlüssel gehabt und nie diese Villa betreten, nur am Gartentor auf das Mädchen gewartet, als ein Mann kam, der ihm einen Koffer zur Aufbewahrung gab, um schnell etwas zu erledigen. In diesem Koffer, den Hans mit heimnahm, weil der fremde Mann nicht wiederkam, fand dann leider die Polizei das Diebesgut. »Dieses alte Märchen!« rief Vater, lachte und brachte Mutter noch mehr in Harnisch. »Und wenn´s wahr ist?« entgegnete sie aufgebracht. »Warst du dabei? Ich habe ihn schließlich im Gefängnis besucht und seine Briefe gelesen, ich leg´ für ihn die Hand ins Feuer, damit du´s weißt.« Aber Vater blieb bei seiner Meinung und behauptete: »Wenn der Hans nicht Nazi geworden wäre, säße er immer noch im Knast oder schon wieder, das redest du mir nicht aus. Unkraut verdirbt nicht.«
In Sprichwörtern war Vater groß, er freute sich und lachte lauthals darüber, wenn er glaubte, das Passende zu einer Situation gefunden zu haben. Als junger Mann, bei irgendeinem Gartenfest mit Tanz, wo er Mutter kennenlernte, erregte er Aufsehen durch seine Sprüche, mit denen er um sich warf. Er verblüffte und blendete sie damit und machte auf sie den Eindruck eines gebildeten, witzigen Menschen. Dazu war er hübsch, adrett gekleidet und ein guter Tänzer, so daß sich alle Mädchen um ihn rissen. Es dauerte ziemlich lange, bis Mutter die vielen Nebenbuhlerinnen ausgestochen hatte; da war sie freilich dahintergekommen, wie klein der Vorrat seiner Aussprüche war. Trotzdem heiratete sie ihn, ein Kind war nämlich unterwegs, er wiederholte nur immer: »Kommt Zeit, kommt Rat«, lachte und brachte es schließlich zuwege, daß sie es wenige Tage vor der Hochzeit wegbringen ließ. »Sonst hättet ihr noch eine Schwester gehabt, man konnte nämlich schon erkennen, daß es ein Mädchen war«, erzählte sie später einmal. »Aber ich bin auf seine Sprüche hereingefallen, in jeder Hinsicht, von Anfang an bis zuletzt.«
Seine Lieblingssätze waren: »Was sein muß, muß sein«, und: »Ehrlich währt am längsten.« Ich wußte, es war sein Stolz, daß in seinem Straßenbahnwagen nie ein Kontrolleur einen Schwarzfahrer aufgespürt hatte. Sein Personengedächtnis war fabelhaft, er brauchte die Einsteigenden nur kurz zu mustern, doch prägten sich alle Gesichter ein, selbst bei dem größten Gedränge entging ihm nichts. Nach dem Dienst konnte er die Leute aufzählen, die er abkassiert hatte, ob sie kleines oder großes Geld hervorgeholt hatten, auf Mark und Pfennig genau, und ob sie den Gang versperrt oder zu einem Sitzplatz drängten; junge Leute scheuchte er sowieso auf den Perron. Er teilte sie ein in Hochnäsige, Liederliche, Höfliche, Freundliche, Knickrige, Großmäulige und Dummdreiste. Kam ihm jemand frech, so kanzelte er ihn gehörig ab, und war ihm gar einer auf die Füße getreten, bekam er einen noch derberen Tritt zurück. »Wie´s in den Wald hineinhallt, so hallt´s auch raus«, rief er den Fahrgästen zu. Mit Betrunkenen oder Widerspenstigen, die nicht zahlen wollten, machte er kurzen Prozeß, er klingelte, ließ anhalten und setzte sie an die Luft. »Wer nicht hören will, muß fühlen«, rief er ihnen nach. Und wenn jemand um Nachsicht bat oder seine rauhe Konsequenz tadelte, winkte er lässig ab und meinte: »Die kleinen Gauner werden auch mal groß, steht schon in der Bibel.«
Nachdem ich als Zehnjähriger Pimpf geworden war, kam Vater auf Urlaub. Er sah mich in meiner Uniform mit dem Braunhemd kopfschüttelnd an. »Mußtet ihr das selber kaufen, dieses Senfhemd?« fragte er. Er hatte seine Uniformen stets kostenlos bekommen, entweder vom Straßenbahndepot oder von der Wehrmacht, anders erschienen sie ihm unerträglich. Meine Mutter fiel ihm ins Wort, solches Gerede könne Kopf und Kragen kosten. »Der Junge«, flüsterte sie und nahm mich beiseite. »Daß du nie so was weitersagst.« Mein Vater amüsierte sich jedoch so sehr über das Wort »Senfhemd«, daß er immer wieder darauf zurückkam. »Wenn man nicht mal in seinen eigenen vier Wänden reden kann, wie man will«, hielt er ihr entgegen, »dann ist überhaupt alles Senf.«
Meist ging es bei solchen Auseinandersetzungen um mich; Achim, mein Bruder, war noch zu klein. Bald kam aber die Zeit, da er bei allem mit dabeisein wollte, vor allem beim Spielen im Hof, bei unseren Späßen und Streichen, die den Krieg und das besorgte Gerede der Eltern vergessen ließen. Wenn wir ein Portemonnaie an einen Zwirnsfaden banden und, hinter einer Mauer versteckt, die Leute foppten, lachte mein Bruder so laut und verräterisch, daß ich ihm den Mund zuhalten mußte und er fast erstickte. Er lachte von kleinauf gern und laut wie Vater, überhaupt war er ihm ähnlicher, ich dagegen mehr Mutter. Kichernd stand er da, wenn ich die Jungvolk-Uniform anzog, das Koppelschloß mit dem Fahrtenmesser umschnallte und die komische Skimütze aufsetzte. Beim Marschieren, im Gleich- oder Achtungsschritt, auf dem Geibelsportplatz, hopste er hinterm Fußballtor herum und äffte uns nach. Er grölte laut und kreischend mit, wenn wir das »Englandlied« oder »Wir lagen vor Madagaskar« sangen, obwohl er viel musikalischer als ich und ein guter Sänger war. Mit vier oder fünf Jahren spielte er auf Großmutters Klavier, lauter komische Sachen, alte Schlager von den »Wanzen, wie die tanzen, immer an der Wand lang« oder von der Festung Königstein, »Juppheidieh, juppheidah!«. Einmal bekam er von unserm Fähnleinführer eine Backpfeife, als er dieses Ulklied während eines Fahnenappells auf dem Sportplatz grölte. Er fiel hin, blieb eine Weile liegen, dann rief er nach mir. Als ich abends nach Hause kam, saß er mit rotem Gesicht da und schrie mich an: »Du Feigling!« Ich schämte mich, weil ich mich nicht vom Fleck gerührt hatte, als es passierte, doch sagte ich mit aller Entschiedenheit: »Du Knallkopp, das ist kein Kindergarten, laß dich dort erst wieder blicken, wenn du aus den Windeln bist.«
Vater hatte uns beiden Jungen Mundharmonikas