Meines Vaters Straßenbahn. Eberhard Panitz
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Wegen seiner Ordnungsliebe und pedantischen Sorgfalt, mit den Dingen umzugehen, kam es zu den ersten Streitereien zwischen Mutter und ihm, an die ich mich erinnerte. Er konnte keine unaufgeräumten Schubfächer und Schränke ertragen, nörgelte an dem Nähkästchen herum, in dem Wolle, Zwirn, Stoffreste, Nähnadeln und Knöpfe wirr durcheinandergerieten, wenn Mutter etwas suchte. Nie fand sie die Schere, weil Vater sie dahin gelegt hatte, wohin sie seiner Meinung nach gehörte. Genauso war es mit dem Schuhputzkasten, der Wäschetruhe, aus der auf geheimnisvolle Weise die Klammern oder die Leinen verschwanden, und mit den Schlüsseln zum Keller, Boden und für sein Fahrradschloß, die er zu seinem Zorn nie am rechten Platz wiederfinden konnte. Sein Fahrrad war mindestens fünfzehn Jahre alt, als er in den Krieg mußte. »Da hängt der Schlüssel«, sagte er beim Abschied zu mir, ernst und gewichtig, so daß ich mir vorkam, als wäre ich schon erwachsen. »Ich hab´s aufgehängt, damit die Reifen nicht leiden.« Er führte mich zu dem Rad im Keller, das er noch einmal geputzt und eingeölt hatte. »Bitte, achte darauf, daß kein Rost ansetzt, und benutze es nur im Notfall. Du weißt, was ich meine.«
Ich war siebeneinhalb Jahre und hatte nur einen einzigen Notfall erlebt, einen blutenden Mann auf der Straße am Friedhof, der vom Fahrrad gestürzt und unter einen Wehrmachtswagen geraten war. Mein Vater hielt meine Hand fest, sie war schweißnaß, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Er versuchte auch Mutter zurückzuhalten, die sich jedoch losriß und zu dem Verunglückten lief und aufgeregt den herumstehenden Leuten zurief: »Helft doch!« Sie kniete sich neben den Mann hin, mitten auf der Straße, preßte ihr Taschentuch auf die Platzwunde am Kopf, verband ihn, nachdem irgend jemand Tücher gebracht hatte, und blieb so lange bei ihm, bis ein Krankenwagen kam und den Verletzten wegbrachte. »Mein Gott, Gerdi«, sagte Vater, bleich im Gesicht und zittrig am ganzen Körper auf einmal. »Ich kann so was nicht, nicht einmal mitansehen.«
Ein paar Leute stiegen in die Straßenbahn ein, bald wieder aus, ich nahm es kaum wahr. Auch mein Vater kümmerte sich nicht darum und blieb bei mir, obwohl er sonst seine Pflichten sehr genau nahm. Mich bat er nochmals ums Fahrgeld, zwinkerte mir zu und sagte: »Du hast mir nie ernstlich Schwierigkeiten gemacht.« Immerhin hatte ich sein Fahrrad geölt, geputzt und später mit Decken verhängt, als er Jahr um Jahr weggeblieben war. Ich hatte es nicht benutzt, sooft Mutter auch sagte, ich könne es gut gebrauchen und getrost nehmen, sie würde damit ohne weiteres fahren, wenn es nicht ein Herrenrad und der Sattel zu sperrig für sie sei. Denn bald nach der Geburt meines Bruders, vier Jahre bis zum Bombenangriff, mußte sie jeden Tag zur Arbeit in die Stadt, in die vollen Straßenbahnen, die sie haßte, noch als Vater Schaffner war. »Das Geratter, Gedränge, die schlechte Luft, und überhaupt«, stöhnte sie abends, am Trachenberger Depot, wo ich sie mit meinem Bruder abholte, nachdem wir tagsüber bei der Großmutter gewesen waren. »Ich möchte bloß wissen, ob ich in meinem Leben noch einmal mit einem Auto oder Flugzeug in der Welt herumkomme.«
Einen Urlaub, eine Reise irgendwohin gab es nie. Nur Mutter fuhr einmal im dritten oder vierten Kriegsjahr nach Lemberg, um einen Feldwebel zu treffen, den sie im Kaufhaus Renner kennengelernt hatte. »Ich habe ihm die beste Seife gegeben, die versteckt in einer Ecke lag«, erzählte sie später, als die Nachricht kam, daß er noch im letzten Moment an der Oderfront gefallen war. »Er liebte feine, teure Sachen, er war ein gebildeter Mensch.« Tagelang weinte sie, wochenlang schrieb sie an Vater keine Zeile, von dem regelmäßig Feldpostbriefe kamen, die immer mit dem Satz endeten, daß es ihm den Umständen entsprechend gut ergehe, was er auch von uns hoffe nebst allen Verwandten und Bekannten, die wir freundlichst grüßen sollten. »Freundlichst«, ereiferte sich Mutter, wenn sie das las. »Was denn noch?«
Von Lemberg war sie wie verwandelt zurückgekommen, ernst, trotzdem übermütig und entschlossen. Die Fahrt war langwierig und gefährlich gewesen, mit einem Hotelzimmer hatte es nicht geklappt, doch dann war sie mit diesem Feldwebel am Stadtrand bei Bauern untergekommen. Nachts war etwas explodiert, es hatte eine Schießerei gegeben, zwei Tage war die Vorortbahn wegen der Partisanengefahr gesperrt. »Seitdem weiß ich, was los ist, niemand soll mir mit dummem Gerede kommen«, sagte sie und ging abends immer häufiger weg. Sie hatte sich vorgenommen, aus dem vertrackten Kriegsleben das Beste zu machen, rackerte sich nicht mehr bei der Arbeit ab, unterhielt sich mit Kunden, die bißchen mehr Geist hatten, wie sie sagte. »Sieh her, was mir jemand geschenkt hat«, sagte sie und zeigte mir ein Lederetui mit einem winzigen Füllfederhalter. »Wenn ich Zeit hätte, würde ich mich hinsetzen und damit einen Roman über mein Leben schreiben.« Oft war ihre Tasche voller Parfüm- und Kölnischwasserflaschen, Seife, Haarwäsche, die in den Lagerecken verstaubten, weil im letzten Kriegsjahr fast nur noch Einheitsseife und Scheuersand auf Marken verkauft wurden. Vieles von den Luxusdingen schickte sie dem Feldwebel nach Lemberg, manches tauschte sie gegen Zigaretten, Kaffee und Kognak ein, dafür wieder erwarb sie Kartoffeln, Mehl oder Zucker. »Es ist möglich, daß uns noch Bomben zerfetzen oder das Haus abbrennt, aber hungern werden wir nicht«, sagte sie und gab uns Jungen das Beste, aß selbst reichlich und brachte auch noch etwas der Großmutter und ihrer kränkelnden Schwester Lotte. »Ich kann Leidensmienen nicht ausstehen, man muß sich durchbeißen und seine Zähne zeigen, solange man welche hat.«
Wir hatten längst das Frankfurter Tor hinter uns gelassen, die Hochhäuser mit den runden Türmen, die abends angestrahlt wurden, Berlins Pracht aus den fünfziger Jahren. Auch mein Vater schien dafür blind zu sein und rief nicht einmal die Haltestellen aus, was er in Dresden niemals versäumt hatte. Bei guter Laune wies er Fremde auf Sehenswürdigkeiten hin: »Die Katholische Hofkirche, das Schloß mit dem Fürstenzug, einhundertundzwei Meter lang, auf Kacheln original Meißner Porzellan.« Er erzählte mir die komischsten Geschichten von der alten Stadt, an die er offenbar selber glaubte: »Die Kuppel der Frauenkirche ist aus Quark gemauert, weil es früher noch keinen Mörtel gab. Und August der Starke fuhr im Sommer mit dem Schlitten vom Schloß nach Moritzburg, sechzehn Kilometer, überall war Salz gestreut.« Er zeigte mir die Stelle im Geländer der Brühlschen Terrasse, die einem Daumenabdruck ähnlich war. »Da hat der König kurz draufgedrückt, als er einmal hier stand.« August habe dreihundertsechzig Kinder und so ungeheuer viel Kraft gehabt, daß er mit der linken Hand einen Trompetenbläser, mit der rechten einen Trommler zum Fenster hinausstrecken konnte. »Die mußten trompeten und trommeln, und er freute sich, wenn die Leute vorm Schloß zusammenliefen und ›Hoch lebe der König‹ riefen.« Den letzten König hatte Vater noch selbst gesehen, in einem einfachen Anzug und offenen Auto, das hatte man nach dem ersten Weltkrieg erst beschlagnahmt, dann aber freigegeben, damit der Monarch schnell und ohne Aufsehen verschwinden konnte. Vater wies auf die zerschossenen Sandsteinmauern des Dresdner Blockhauses am Neustädter Markt, wo sich in den Revolutionsjahren heftige Kämpfe abgespielt hatten. »Zeiten waren das«, sagte er, »es ging alles drunter und drüber, nur die Straßenbahn und ich blieben immer im selben Gleis.«
Nun setzte er sich zu mir, ohne vorerst weiter darauf zu dringen, daß ich das Fahrgeld bezahlte. Er holte sich aus der Uniformjacke einen Apfel, den er mit dem Messer schälte, zerschnitt und gerecht mit mir teilte. Auch das hätte er früher nie unterwegs auf einer Fahrt riskiert, nicht einmal in einer leeren Bahn. Nur an der Endhaltestelle ließ er es sich schmecken, am liebsten auf der Bank unter der Eiche am Wilden Mann, wo ich manchmal auf ihn wartete, wenn die Schule zeitig zu Ende war. Er fragte mich nie nach Schulaufgaben oder was