Meines Vaters Straßenbahn. Eberhard Panitz
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Wer wußte, wo wir hinfuhren? Es war eine merkwürdige Fahrt, eine Reise wie im Traum. Das Licht flackerte in der Straßenbahn, es regnete immer heftiger. Ich hatte vollends die Orientierung verloren, die Fensterscheiben waren beschlagen, ich bemühte mich gar nicht mehr, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden. Auch Vater schien es egal zu sein, wo wir uns befanden. Er konnte lange dasitzen und schweigen, niemals verspürte er den Zwang zu sprechen, wenn er mit jemandem zusammensaß. Seine Gedanken ließen sich schwer erraten, obwohl sein glattes Gesicht nicht starr und unbeweglich war, sondern gespannt, aufmerksam alles beobachtend. Plötzlich lachte er laut auf und steckte mich damit an. Er brauchte gar nichts weiter zu sagen, keine Witze oder komischen Geschichten zu erzählen; in einer unmöglichen Situation zu lachen, darin war er ganz und gar der Alte geblieben. »Warum lachst du?« fragte ich trotzdem. Er blickte mich an, lachte noch immer, rückte ganz dicht an meine Seite und erwiderte: »Warum denn nicht?« Er wollte mir noch irgend etwas sagen, ich spürte es, vielleicht etwas anvertrauen, was er früher für sich behalten hatte, weil ich zu jung, mein Bruder noch jünger und Mutter zu sehr mit anderem beschäftigt war. Sein Lachen kam mir wie eine Ausflucht vor, eine Flucht vor Worten oder gar wie ein verlegenes Eingeständnis, daß vieles in seinem Leben verquer gegangen war. »Da sieht man sich nun wieder«, sagte er, nachdem er plötzlich ernst geworden war. »Du hast alles vor dir, ich hab´ alles hinter mir, aber du kannst auch manches nicht mehr ändern. Was gewesen ist, ist eben gewesen, ich hab mich damit abgefunden.«
In unsere Dresdner Wohnung schien morgens die Sonne in Stube, Küche und Bad, nachmittags ins Schlafzimmer auf der Hofseite, wo ein winziger Balkon war, der gerade genug Platz für mich, meinen Freund Wolfgang und das Kaspertheater bot, das ich zur Schuleinführung statt einer Zuckertüte von Vater geschenkt bekommen hatte. »Süßigkeiten machen dick«, meinte er, »kaspere dich lieber gesund.« Er stand oft hinter der Balkontür und amüsierte sich bei unseren lärmenden Räuber- und Gendarmspielen mehr als die Kinder, die unten auf dem kiesbestreuten Hofweg hockten, weil sie den Rasen vorm Balkon nicht betreten durften. Wir brüllten desto lauter, je dramatischer sich die Handlung zuspitzte. Oft beschwerten sich die Leute aus der Nachbarschaft, riefen: »Ruhe!« und schickten uns den Hausmeister auf den Hals, einen Kriegsinvaliden mit Parteiabzeichen, der jedesmal drohte, uns die Puppen wegzunehmen, sich aber auch nicht auf den Rasen und an den Balkon herangetraute, weil dort ein Verbotsschild stand. Einmal, bei einer grölenden Räuberjagd, wurde es ihm zu bunt, denn wir äfften ihn auch noch nach, indem wir die Puppen herumhumpeln und dummes Zeug reden ließen. Er war blitzschnell am Balkongeländer und wollte zufassen, zum Gaudi aller umklammerte da der Teufel seine Hand und ließ nicht locker, bis wir alle Puppen in Sicherheit gebracht hatten. Mein Vater, der von der Tür verschwunden war, tat so, als habe er nichts bemerkt, schenkte mir aber am nächsten Tag eine neue Puppe, ein Krokodil mit spitzen Zähnen, das noch besser zuschnappen konnte. »Dafür hast du Geld«, sagte Mutter, »und den Hausmeister machst du uns zum Feind, den anständigsten unter den Nazis hier, diesen armen, verkrüppelten Kerl, der bloß seine Pflicht tut.«
Neben Onkel Hans, zu dessen überraschender Hochzeit wir ohne Vater nach Leipzig fuhren, hatte Mutter noch drei jüngere Brüder und fünf Schwestern, die alle in der Nähe wohnten. Die Tante Helli, die älteste, hatte einen Dorfschmied geheiratet, ganz oben auf dem Berg in Brabschütz bei Dresden. Sie hatten selbst schon wieder sechs Kinder, die anderen Geschwister auch zwei, drei oder mehr, nur Tante Lotte nicht, die Lustigste trotz ihrer Krankheit, über die nur geflüstert wurde. Desto ungenierter sprach man von der Kinderlosigkeit, die gar nicht in die Familie paßte; angeblich war ihr Mann, Onkel Max, daran schuld, der keine »Puste« hatte. Wenn die ganze Familie bei der Großmutter beisammen war, hatten die Erwachsenen kaum Platz in der Wohnstube, wir Kinder quängelten noch dazwischen herum, bis die Rede auf die »Puste« kam. Da wurde es lustig, laut und besonders interessant für uns, Witze machten die Runde, Mutter wurde rot im Gesicht, und Vater stimmte das Lachkonzert an. Nur für uns gab´s keinen Pardon mehr. »Das ist nichts für euch«, rief der Dorfschmied und scheuchte uns in den Korridor, dort von der Tür weg und in die Küche. Wir hörten noch, daß Tante Helli ihn ruppig »Du Oberpuster!« nannte. Sie hatte herausgekriegt, daß es bei einer Gärtnerswitwe im Nachbardorf noch zwei Kinder von ihm gab. Niemand sonst in der Familie nahm es ihm sonderlich krumm, die Großmutter holte sogar immer ein extra großes Glas Wermutwein für ihn aus der Speisekammer und sagte lachend zu uns Kindern: »Das ist der gute Pustewein.« Auf dem Nachhauseweg fragte ich die Eltern, was das mit der »Puste« bedeutete, und bekam von Mutter nach betretenem Schweigen die Antwort, daß Onkel Max wegen seiner Arbeit in einer Steingutfabrik eine Staublunge habe, der Schmied oben in Brabschütz dagegen gute Luft, viel Bewegung, Ausarbeitung und deshalb eine so gute Gesundheit. »Also richte dich danach«, fügte Vater ganz ernst hinzu, »sonst hast du obendrein noch den Spott, wie der arme Max.«
Der Vater meines Freundes Wolfgang besaß eine Werkstatt in einem Micktener Hinterhof, wo er für Heizungsrohre Isolierhüllen mit einer Füllung aus Glaswatte herstellte. Von den Abfällen durften wir uns nehmen, was wir wollten. Damit bauten wir Dörfer und Städte mit Häusern, Bahnhöfen, Schlössern, runden Türen, Kirchen, ringsherum Gebirge und verschneite Wattewälder, manchmal hockten wir tagelang auf dem Wäscheboden und bevölkerten unsere Landschaft mit Indianern und Tieren aus Knetmasse, unserem Lieblingsspielzeug. In die Wohnung durften wir damit nicht, weder bei uns noch bei Wolfgang, obwohl seine Eltern sonst großzügig waren. Für Vater galt das Stubenhocken als etwas Verwerfliches, sogar Schädliches, außerdem wollte er in seiner Ruhe nach dem Dienst nicht gestört sein. Von unserem Schlupfwinkel auf dem Dachboden durfte er nichts wissen, er hätte dazwischengefunkt und uns »Beine gemacht«, wie er sagte. Er war überhaupt gegen die Sache mit der Glaswatte und nörgelte immer an Wolfgangs Vater herum. »Dem geht´s eines Tages wie Onkel Max«, behauptete er. »Noch schlimmer, ihm reißen die winzigen Glassplitter inwendig die Lunge auf.« In seinen Augen war dieser Mann zwar ein fleißiger Mensch und geschickter Erfinder, wovor er Hochachtung hatte, doch trotz seiner Klugheit sehr dumm, weil er nicht auf seine Gesundheit achtete. »Und wenn er´s bis zum Millionär bringt, würde ich nicht mit ihm tauschen«, meinte Vater. »Lieber ein armer Teufel, aber gesund.«
Mit Mutter fuhr ich während des Krieges oft nach Brabschütz zu Tante Helli, die sich von ihrem Mann trotz der vielen Kinder scheiden lassen wollte. Er war als Schmied zu den Rückwärtigen Diensten geholt worden, erst nach Jüterbog, dann nach Bautzen, aus beiden Städten war Post gekommen, doch nicht von ihm, sondern von Frauen, eine erwartete in Kürze ein Kind. »Was zuviel ist, ist zuviel«, sagte Tante Helli und führte uns durch eine Zaunlücke in eine große Gärtnerei, wo sie arbeitete. Auf der gutgedüngten, dunklen Erde wuchsen Bohnen, Erbsen, Möhren, Tomaten und herrliche Äpfel. »Pflückt nicht bloß an einem Fleck, sonst merkt er´s«, warnte sie uns und blickte hinüber zu dem alten Haus, wo sie auch noch für die Kinder des verwitweten Gärtners sorgte. »Wie ist der denn, besser?« fragte meine Mutter, während sie eilig Bohnen pflückte und mich in die Erbsenbüsche schickte. »Besser, was heißt besser?« antwortete meine Tante und zuckte mit den Schultern. »Jeder Mann braucht eine Frau, mancher zwei, der da bloß meine Hände.« Ihre jüngste Tochter war dabei, Inge mit den langen schwarzen Zöpfen, die mir ein bißchen half, doch lieber ihrer Mutter zuhörte. Von hinten, aus den Erbsenbüschen, schlich ich mich an sie heran und zupfte sie an ihren Zöpfen. »Du!« rief sie und sah