Alexa und das Zauberbuch. Astrid Seehaus
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Sie verzog keine Miene, als ihre Blicke sich erneut trafen. In seinem Gesicht rührte sich nichts. Seine kohleschwarzen Augen waren ausdruckslos auf sie gerichtet. Aber sie wusste, was er dachte. Ihr Blick löste sich von dem Totenschädelgesicht und suchte erneut den Platz ab. Nirgendwo konnte sie ihn in der Menge erblicken. Nichts verriet seine Anwesenheit. Er war immer noch nicht gekommen. Wo war er?
Alexa fing laut an zu fluchen, bis sie aus den Augenwinkeln Bewegung am Rande des überfüllten Marktplatzes wahrnahm.
Na endlich!
Sie suchte im Gewimmel den Totenschädel. Als sie ihn fand, verzog sich ihr Mund zu einem höhnischen Grinsen. – Du wirst nicht gewinnen! Nein, du nicht!, dachte sie. – Und ihr Blick wanderte zurück zur Quelle der Unruhe. Sie hatte sich ernste Sorgen gemacht, dass er ausblieb. Doch nun war er da. Wie hatte sie nur zweifeln können? Sie atmete erleichtert auf.
Aber wie groß war ihre Enttäuschung, als sie zwischen den Hauben und Schleiern, den Wämsern und ausladenden Umhängen nur den Hirtenjungen Strobel mit seinen zerzausten Haaren entdeckte, der sich mit einer Rotte Schweine seinen Weg durch die Menge bahnte. Mit einem Haselstöckchen trieb er eine dicke Muttersau und ihre quiekenden Ferkel vor sich her. Verkniffen blickte er sich um und drängelte sich an den Neugierigen vorbei.
Er war groß und schlank und überragte schon jetzt die anderen um einen halben Kopf, obwohl er noch keine sechzehn Jahre alt war. Man hatte ihm gesagt, er werde noch in den Himmel wachsen, wenn er weiter so viel Essen in sich hineinschaufeln würde, aber das kümmerte ihn nicht. Seine Größe war auch eher von untergeordneter Bedeutung, wenn man das weizenblonde Haar sah, das seinen Kopf wie ein struppiger Heiligenschein umgab. Es stand nach allen Seiten ab, und er bekam es nie gebändigt. Eine Filzkappe thronte schief auf seinem Haupt, als ob er sie dort vergessen hätte, und mit jeder Bewegung wippte sie hin und her wie eine Krähe, die ihre Flügel ausbreitet, um das Gleichgewicht zu halten.
Ach Strobel!, dachte Alexa enttäuscht, was machst du denn hier? Der Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, und sie sehnte sich nach einem erfrischenden Bad im Weiher ihres kleinen Dorfes Hasenwinkel.
Derweil gestikulierte Strobel wild mit seinem Stöckchen in der Luft herum, wie ein Tanzäffchen mit der Rassel, als ob er jemanden durchbohren wollte. Sein lächerliches Gehampel steigerte Alexas Unruhe ins Unerträgliche. Sie verlagerte das Gewicht wieder auf das andere Bein. Das zynische Grinsen des Totenschädels irritierte sie. Die Kirchenglocken setzten erneut mit ihrem Geläut ein.
„Teufelsdreck und Schweineblut“, platzte es plötzlich in blindwütigem Zorn aus Alexa heraus. „Niemals meine Seele ruht! Sturm und Hagel werden schwemmen, Blitz und Donner niederbrennen, alles, was gar Lüge ist!“ Sie schrie über die johlende Menschenmasse hinweg. Ihre Blicke schleuderten vernichtenden Hass auf die dürren, schwarzen Gestalten, die sie bis dahin stumm angestarrt hatten und sich nun ängstlich in die Nähe des sicheren Kirchenportals zurückzogen.
„NIEDER MIT DER HEXE!“, intonierte das Volk unterdessen.
„Brennt sie auf, das WEIBSSTÜCK!“
„Wir wollen die Hexe BRENNEN sehen!“
„Eure Seele wird ersterben und die all eurer Erben, so ruf ich bei Sturm und Wind, die meine Kinder sind!“ Alexa richtete ihre gesamte Konzentration auf den Totenschädelmann. Das Feuer schlug hoch und der Rauch nahm Alexa für einen Moment den Atem, doch sie ließ sich nicht beirren und schrie sich die Kehle wund: „Meister! MEISTER!“
Strobel stand so nah bei Alexa, wie es in der schiebenden und schubsenden Menge möglich war. Seine Nerven vibrierten, als er sah, dass die Flammenzünglein sich Alexas Füßen näherten. Verschwitzt und zutiefst besorgt wedelte er mit seinem Stock hektisch herum und murmelte bruchstückhaft eine Beschwörungsformel nach der anderen. Er vergaß dabei jede Vorsicht, doch die Kirchenmänner achteten nicht auf ihn, sondern beobachteten die Hexe, wie sie auf dem brennenden Scheiterhaufen stand und Fluch um Fluch aneinanderreihte wie Perlen an einer Kette.
„Schweinemist! Schweinemist! Dass du bald von dannen bist!“ Strobel richtete den Stock auf Alexa, als er versuchte, sich an die korrekte Beschwörung zu erinnern.
Der Rauch zog über ihn hinweg. Er duckte sich zu spät, verschluckte sich und hustete. Als er wieder aufblickte, stand Alexa immer noch in der Mitte des lodernden Flammenmeeres. Zart und zerbrechlich, aber ihre Wut ließ sie um ein Vielfaches größer erscheinen. Sie starrte Strobel an, als ob sie vorhätte, ihn mit Blicken zu durchbohren. Er versuchte, sein Unbehagen zu ignorieren, indem er seinen Stock nach oben stieß, als ob er die Wolken wie mit einem Messer zerschneiden wollte.
Über die grölende Menge hinweg rief er: „Klee und Schweiß und Wasserralle! Schlangenbrut und Teufelskralle! Fahr hinaus und fahr hinunter, geh vom Scheiterhaufen runter!“
Er wartete ab.
Es geschah nichts. Wieder geschah nichts.
„Mach schon!“, schalt er sich. „Strobel, du Esel, du wirst doch jetzt keinen Fehler machen.“
Es kam auf die richtigen Handbewegungen an, das wusste er. Nicht nur die Worte waren bei einer Beschwörung entscheidend, sondern auch alle Bewegungen, die er dabei auszuführen hatte. Wieder und wieder hatte er diese Formel einstudiert. Stundenlang, tagelang die gleiche ruckartige Bewegung der rechten Hand durch die Luft geübt, zwei Mal nach rechts, zwei Mal nach links, dann über den Kopf hinweg einen großen Kreis gezogen und den Stock nach vorne auf den Gegenstand gerichtet, der sich fortbewegen sollte. Er hatte jede einzelne Bewegung einstudiert. Jede einzelne! Aber warum tat sich dann nichts? Er schien irgendetwas falsch zu machen. Irgendetwas war nicht richtig an der Ausführung. Aber sie musste korrekt sein! Er hatte doch bisher alle Gegenstände erfolgreich verschwinden lassen können. Sogar sein Lieblingsschwein Trulle hatte er von einem Ort zum anderen gehext. Und das war ziemlich schwer gewesen, denn Trulle wühlte ständig nach irgendwelchen Wurzeln oder schnüffelte nach Pilzen und war ein ziemlich ungehorsames Schwein, weil es beim Weghexen nicht still stehen wollte. Und nun sollte er plötzlich versagen? Das durfte nicht sein! Es war lebenswichtig, nicht zu versagen. Nicht hier! Nicht jetzt! Nicht bei Alexa! Sie würde ihm nie verzeihen. NIEMALS! Sie würde ihn ein Leben lang verhöhnen. Vor Aufregung vergaß er dabei, dass sie das wohl kaum könnte, wenn er versagte und sie nicht mehr da war. Er wiederholte die Beschwörung und zog erneut seine Stockkreise in der Luft.
Nichts!
Er versuchte es noch einmal und änderte ein klein wenig die Bewegungen.
Wieder nichts!
Alexa rollte mit den Augen und zischte: „Strobel, du nichtsnutziger Esel eines Esels!“ Dann fing sie noch einmal von vorne an. Der Rauch nahm ihr fast die Stimme, hinderte sie aber nicht daran, mit hoch erhobenem Kopf ihre Verwünschungen auszustoßen. Sie verwünschte die Kirche, die sie auf den Scheiterhaufen gebracht hatte, sie verwünschte den korrupten Stadtrat, der nichts dagegen unternahm, sie verwünschte die gierigen Geldsäcke von Kaufleuten, die an dem Spektakel verdienten, und zu guter Letzt verwünschte sie die Gaffer, die sich daran erfreuten. Sie wünschte Donner, Blitz und Sturm herbei, was ihr nicht gelang, denn sie konnte ihre Hände nicht bewegen, und die waren unerlässlich bei der korrekten Ausführung eines Schadenzaubers. Aber sie hingen gefesselt am hölzernen Pfahl in der Mitte des Scheiterhaufens und waren zum Hexen nicht zu gebrauchen.
Was machst du da, Strobel?, dachte Alexa erzürnt, als sie den Schweinehirten herumfuchteln sah, als ob er einen Schwarm Mücken vertreiben wollte. Mir geht hier die Luft aus und du Esel unterhältst das Publikum