Alexa und das Zauberbuch. Astrid Seehaus
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Der Höllenwächter schüttelte ungeduldig den Kopf. „Lass die Mätzchen!“ Er wollte nach der Münze greifen, als plötzlich auf der anderen Seite des Höllenraums ein Tumult ausbrach. Geschickt ließ Alexa das Goldstück wieder in ihre rechte Rocktasche gleiten und entzog sich den Blicken des Höllenwächters. Doch der schoss bereits in die Richtung des Lärms davon.
„Feuer!“, rief jemand, und dann noch einmal, wesentlich lauter: „Feuer!“
„Es brennt!“, schrie es nun von allen Seiten. „Raus hier!“
Alexa schaute sich neugierig um. Was für ein Spektakel! Der Höllenfürst kündigte sich an und sie würde ihn gleich sehen. Wenn Strobel das nur wüsste, er würde vor Neid platzen, dieser Esel! Sie schritt auf die Stelle zu, von der die Schreie kamen, und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn endlich leibhaftig zu sehen. Aber da sie nicht besonders groß war, hatte sie keine Chance, irgendetwas im Gewühl zu entdecken.
Ehe sie sich versah, wurde sie in einem Pulk hysterisch um sich schlagender und drängelnder Gestalten in die andere Richtung geschoben. Sie wehrte sich verzweifelt und drehte sich um, um sich durch die Menge wieder zum Feuer hin zu pflügen, beide Hände gefaltet und wie einen Rammbock vor sich haltend, doch es gelang ihr nicht. Anweisungen gellten durch den Raum, von Schreckensrufen unterbrochen. Der Lärm war kaum auszuhalten. Sie wollte ihre Hexenkunst anwenden, aber wenn sie ihre Hand für die Ortsveränderung benutzen wollte, war jemand da, der ihr den Arm wegriss oder sie zum Stolpern brachte, bis sie zu guter Letzt am Boden lag und sich zwischen den Beinen der Flüchtenden wiederfand. So gelangte sie, auf allen Vieren krabbelnd, mit den anderen ins Freie. Ein Keuchen und Stöhnen umgab sie, als eine sommerwarme Brise sie umwehte.
„Gott, was haben wir Glück gehabt!“ Der Junge, der das gesagt hatte, drehte sich zur unscheinbaren Hintertür um, durch die er sich gerade gerettet hatte, und starrte verängstigt auf die Menschen, die noch herausstolperten.
Alexa verstand rein gar nichts. Mit großen Augen sah sie zu den anderen herüber, und dann zum Ausgang. Man wollte sie nicht sehen? Sie war erschüttert. Der Meister der Finsternis wollte sie nicht sehen?! Er hatte es nicht für nötig befunden, sie zu begrüßen, und jetzt wurde sie wie ein Kübel voller Mist ausgekippt? Was würde Meister Schrawak von ihr denken, wenn er das wüsste?
Nein, das ließ sie sich nicht bieten! Sie war eine gute Hexe, eine der besten, eine mit großer Zukunft. Der Meister musste sie empfangen. Beleidigen ließ sie sich nicht, auch nicht vom Höllenfürsten persönlich.
Grimmig und mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch erhob sie sich und schritt auf die Tür zu, durch sie hindurch und war binnen weniger Sekunden im rauchigen Inneren des Hauses verschwunden. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die verqualmte Dunkelheit. Der Raum war nahezu leer. Die Feuerquellen an den Wänden warfen keine Blitze mehr und der weiße Nebel hatte sich in stickigen Rauch verwandelt. Es roch verbrannt, aber es war nicht der angenehme Geruch von Holzkohle und Pflanzenrauch, sondern von Pech und Schwefel. Es stank bestialisch, schlimmer noch, als Alexa es sich jemals für die Hölle vorgestellt hatte. Sie kniff sich die Nase zu und hielt den Atem an. So konnte sie gut und gerne eine ganze Weile warten, bis sie ihn treffen würde. Auch im Atemanhalten war sie eine der Besten. Jetzt kam es ihr sehr zupass, dass sie im Dorfweiher fleißig geübt hatte. Ihre Blicke wanderten suchend umher und hielten unvermittelt inne. Dort stand jemand. Seine schwarzen Haare lagen glatt am Kopf und endeten hinten in einem Pferdeschwanz. Sie wollte gerade auf den Mann zugehen, als sich der Höllenwächter wieder meldete.
Er ergriff ihren Arm und versuchte sie unbeholfen zu trösten: „Na Kleine? Alles in Ordnung mit dir? Es ist nichts passiert. Nur ein kleiner Kurzschluss. Jetzt ist alles wieder unter Kontrolle. Du kannst nach Hause gehen.“ Er zog sie mit sich und schob sie durch einen anderen Ausgang. Dann machte es WUMM!, und die Tür war zu.
Mit einem Mal war sie allein.
Sie sah sich um. Niemand war zu sehen.
Sie trat einen Schritt zurück und suchte nach einem Anhaltspunkt, nach einem Hinweis, durch den sie verstehen könnte, was gerade eben vorgegangen war. Doch sie sah nichts weiter, als dass riesige Buchstaben über der schwarzen Tür brannten. Rot wie die untergehende Sonne. Zögernd las sie die Worte Zur Hölle und kleiner darunter Nachtclub. Und dann erloschen die Buchstaben. Verdutzt wartete sie ab, was noch geschehen würde, aber es tat sich nichts.
Das war doch nicht wahr, oder?
Das konnte nicht sein!
So aber nicht!
Nicht mit ihr!
„Lasst mich ein!“, polterte sie los. Mit nackten Füßen trat sie gegen die schwere Tür. „Ich will zu ihm! Hört doch! Meister! MEISTER DER FINSTERNIS! Gebt mir eine Audienz!“
BUMM-BUMM!
Mit Fäusten und Tritten traktierte sie die Eingangstür, die sich nicht einen Millimeter bewegte. BUMM-BUMM-BUMM! Der Zorn hatte sie gepackt wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie war zornig über die Ignoranz, die sie gerade eben erfahren hatte. Zornig über die verpasste Gelegenheit, ihn, den Höllenfürsten, zu sehen. Zornig, da es kein Lob gegeben hatte für ihre Hexentalente, kein Lächeln, das ihr die Träume versüßt hätte, kein ... rein gar nichts eben. Sie ließ die Schultern hängen und wollte schon gehen, doch dann fiel ihr ein, dass sie dem Höllenfürsten einen kleinen Denkzettel verpassen könnte. Nur einen ganz kleinen, so einen winzigen, über den man lacht ... der eher komisch als hinterhältig ... kaum der Rede wert ... als Beweis ihrer Hexenkunst.
Ohne weiter nachzudenken hob sie ihre Hand, wies mit dem Zeigefinger auf die Tür und zischte die ersten Worte: „Schlangenschwanz und Krähenfuß, durch diese Tür du gehen musst ...“
RINGRINGRINGRINGRINGRING.
Alexa stutzte. Sie unterbrach ihre Beschwörung und drehte sich nach dem fremdartigen Geräusch um.
RINGRINGRING.
Vor ihren Augen raste ein riesengroßer, grüner Lindwurm – ein flügelloser Drachen – in eisernen Furchen den grauen Weg entlang und sauste an ihr vorbei.
Himmel nochmal, was war denn das?
Ihr Arm wurde steif. Ihre Beine zitterten wie Espenlaub. Ächzend sank sie auf die kalten Treppenstufen vor der Hölle, dem Nachtclub, nieder und rieb sich die Augen. Dann starrte sie dem Funken sprühenden Ungeheuer nach. „Tod und Teufel! Tod und Teufel! Das war ein echter Drache! – Ein richtiger, echter Drache! – Das Biest hatte den Hunger von hundert Wölfen.“ Sie hatte sie ganz genau gesehen, diese vielen Menschen, eingesperrt in seinem lodernden Inneren. Fassungslos starrte sie auf die leeren Eisenfurchen. Er hatte sie verschluckt. Und da zappelten sie nun in seinem Drachenbauch und … und …
Teufel nochmal! Kreideweiß im Gesicht und beklommen von dem, was sie gesehen hatte, war sie völlig bewegungsunfähig.
„Oh Strobel! Wärst du jetzt hier bei mir! Wir könnten uns zusammen fürchten.“ Sie wollte aufstehen, doch ihre Beine gaben nach, so dass sie sich noch einmal hinsetzte. Katzenjammer überfiel sie. „Die Hölle ist ein unwirtlicher Ort, Strobel. Mir gefällt es hier nicht.