Alexa und das Zauberbuch. Astrid Seehaus
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Gisela Salzmann hasste die Schule, obwohl sie sich nicht zu beklagen brauchte. Sie war die beste ihrer Klasse, und sie ließ sich durch nichts und niemanden einen Denkfehler nachweisen. Sie war logisch im Denken, klar in der Aussprache, vorbildlich in ihrem Benehmen und – dick.
Ja, überflüssigerweise war sie auch dick. Wäre sie nicht so dick und trampelig wie ein Elefant, dann würde Clemens sie und nicht diese blöde Cynthia nett finden. Diese Kuh, die so viel Grips hatte wie eine leere Butterdose und plapperte wie ein Radio. Wenn Herr Kästner nicht ständig betonte, wie außergewöhnlich Cynthia in seinem Unterrichtsfach sei (ausgerechnet Musik! Lächerlich!), würde Gisela sie glattweg vergessen. Niemand schien überhaupt zu bemerken, wie außergewöhnlich Gisela war, in Mathe, in Deutsch, in Chemie, eigentlich in allen Fächern, außer – wie sollte es auch anders sein? – in Sport.
Warum wurden die Gaben nur so ungerecht verteilt? Sie hatte von allem zu viel. Zu viel Grips und zu viele Pfunde. Gisela hasste ihre Pfunde! Sie hasste sich! Sie hasste Cynthia! Cynthia von Ebersau! Nicht zu vergessen, gesprochen wie Ebers-au. Mit einer kleinen Pause zwischen Ebers und au. Einer klitzekleinen, aber einer wichtigen Pause.
Gisela hasste auch Cynthias Freundinnen Lara, Mona und Sabine, die genauso dumm waren wie Cynthia. Und sie hasste Clemens! Weil sie, die dicke, hässliche Gisela, in ihn verliebt war. Weil er sie nicht beachtete. Weil er nur Augen für Cynthia hatte und nur Ohren für ihre glockenhelle Stimme. Sie, Gisela, dagegen raspelte wie eine verrostete Feile auf Dosenblech. Wenn er sie doch auch einmal so anlächeln würde wie diese Gans. Nur einmal wenigstens. Dann wäre sie ja schon ganz zufrieden und würde nie wieder murren, wenn ihre Mutter ihr auftrug, das doofe Klo zu putzen. Wie sie alles hasste!
Missmutig stampfte Gisela den vertrauten Weg zurück nach Hause. Zuerst durch den Park, danach über die Hauptstraße, ein Stück durch die Fußgängerzone und zum Schluss den Berg hinauf zu den Wohnsilos. Sie würde sich zu Hause ihr Mittagessen warm machen, ihre Schulaufgaben erledigen, ihren dreijährigen Bruder Felix von der Tagesmutter abholen und ihn versorgen, bis die Eltern von der Arbeit kämen. Jeder Tag war wie der vorherige. Eintönig, langweilig und trostlos. Sie sah an sich herunter. Genauso wie dieser Rock, dachte sie. Sie bräuchte dringend ein paar neue Klamotten. Kein Wunder, dass Clemens sie nie eines Blickes würdigte, auch wenn sie auf jede Frage der Lehrer die richtige Antwort wusste.
Sie dehnte ihren Rücken und ließ die Schultern kreisen. Heute war sie wirklich furchtbar verspannt. Es fühlte sich an wie ein Hexenschuss. Besonders jetzt wieder, während sie durch den Park ging. Als sie heute Morgen auf der Bank gesessen hatte, hatte sie sogar jemanden über sich gespürt. Sie schüttelte sich. Unsinn! Ihre Fantasie ging mit ihr durch.
Gisela erreichte die Hauptstraße, dicht gefolgt von Alexa.
Tod und Teufel! TOD UND TEUFEL!
Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Alexa, wie bunt bemalte Blechwagen auf kleinen schwarzen Rädern an ihr vorbeirasten. Und das ohne Pferde oder Ochsen oder andere Zugtiere. Mit einer Geschwindigkeit, die jedem Hexenbesen Ehre gemacht hätte.
Eingekeilt in einer dichten Menschentraube wartete Alexa wie hypnotisiert, wer von den anderen so tapfer sein würde, diese Straße zu überqueren. Ob das eine Art Fehde war, ein Kampf, bei dem man auf den Schlachtruf wartete?
Sie rührte sich nicht von der Stelle. Mit äußerster Skepsis betrachtete Alexa ihre Umgebung. Der Gestank war eine Beleidigung für ihre Nase, der Krach ohrenbetäubend und alles um sie herum sehr absonderlich ... äußerst absonderlich ... höchst absonderlich. Um den Gestank zu beschreiben, fiel ihr kein passender Begriff ein. Sie dachte nach. Sie war im Zauberland. Eindeutig. Nur im Zauberland konnten Wagen durch Zauberkraft gezogen werden und diese furchterregenden Fürze knallen.
Plötzlich strebten alle – wie auf ein geheimes Kommando hin – über die Straße. Alexa wurde mitgeschoben, ob sie wollte oder nicht. Der schwarze Straßenbelag war durch die Sommerhitze aufgeweicht und heiß wie Feuer.
Sie blickte irritiert auf den Asphalt und sprang mit einem Aufschrei hoch. „Teufel nochmal! Meine Füße kokeln an.“
Gisela drehte sich nach ihr um. Was war denn das für eine komische Person, die wie ein Flummi albern herumhopste? Warum trug sie keine Schuhe? Der Rock war zerrissen und sah noch übler aus als ihrer. Noch so eine, deren Eltern kein Geld hatten. Sie warf Alexa ein mitleidiges Lächeln zu.
Erschrocken vergaß Alexa weiterzuhüpfen. Die Hexenjägerin hatte sie erkannt. Sie wusste alles.
Hexenmist noch mal! Mit einem Fingerschnippen verschwand Alexa aus der Menge und tauchte auf der anderen Seite der Straße in der Fußgängerzone wieder auf. Aus riesigen, sich spiegelnden Glasscheiben glotzte ihr ein Mädchen entgegen. Die Haare des Mädchens standen zu allen Seiten ab, als ob sich ein Huhn ein Nest darin bauen wollte. Egal, in welche Richtung Alexa auch schaute, sie sah immer wieder dieses Mädchen, bis sie endlich begriff, dass sie selbst es war, die sie sah. Nachdenklich krauste Alexa die Nase. Überall, wohin sie auch sah, sah sie Glas. So viel Glas? Glas war teuer. Und sehr viel Glas bedeutete sehr viel Geld. Und wenn es viel Geld gab, dann war das ein sehr mächtiges Zauberland. Ein Zauberland mit mächtigen Drachen und einem mächtigen Zauber. Einem Zauber, der … der … einem schon mal ein bisschen Angst machen konnte.
„Du bist nicht von hier, nicht wahr?“ Gisela stand neben der jungen Hexe und blickte sie freundlich an.
Alexa schrak zurück. Hatte die andere sie erkannt?
Gisela musterte das Mädchen. Sie war so groß wie sie, rothaarig, und ihre grünen Katzenaugen funkelten sie jetzt böse an. Ihr Gesicht war herzförmig und das Kinn spitz. Sie sah richtig niedlich aus. Wie eine liebe Hexe aus einem Bilderbuch.
„Was willst du?“, fragte Alexa wachsam.
Gisela lächelte schüchtern. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“
Empört reckte Alexa ihr spitzes Kinn. „Niemand kann mich erschrecken“, entgegnete sie und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihr Herz hämmerte.
Giselas Lächeln wurde noch zaghafter. „Das war dumm von mir. Entschuldigung. Magst du vielleicht ein Stück Kuchen essen?“ Oh Mann! Konnte ihr nichts Besseres einfallen? Musste sie auch jetzt noch ans Essen denken? Sie fing an zu stottern: „Ich kann dich einladen, wenn du willst, ich meine, ich ...“ Sie wusste nicht mehr, wo sie hingucken sollte. Der Blick dieses Mädchens ließ sie ganz unsicher werden. Hatte sie sich ihr jetzt aufgedrängt? Und wäre es vielleicht besser zu gehen? Warum sagte die Fremde denn nichts? „Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich dachte, du willst ... du hast vielleicht Hunger?“ Gisela merkte, wie ihre Stimme vor Aufregung quietschte. „Ich gehe oft hierher, um etwas zu essen.“ Schon wieder redete sie vom Essen! „Es ist das beste Café in der Fußgängerzone.“ Meine Güte, fiel ihr denn kein anderes Thema ein?
Alexa blickte noch einmal in die Auslagen des Geschäfts. Sie sah Gebäck in allen Farben und Formen, und wenn sich diese Zaubertür aus Glas öffnete, umspielte der wunderbare Duft von süßen Köstlichkeiten ihre Nase wie daheim bei der Bäckermeisterin. Sie hatte von Giselas Geplapper nur eines begriffen. Und sie hatte Hunger. Essen war also gut.
„Kuchen?“, entschlüpfte es ihr sehnsüchtig. „Ja richtig, mein Bauch hat ein Loch. Es sollte mit einer guten Mahlzeit gefüllt werden“, und als ob es ihr erst jetzt aufgefallen wäre, beendete sie ihren Satz vergnügt: „Und ein kühles Bierchen soll meinen Durst löschen.“
Giselas Gesichtszüge entgleisten, und sie hauchte schwach: „Nun, äh, Bier? Das vielleicht nicht, aber vielleicht magst du Apfelsaft?“