Götter sind auch nur Männer. Christiane Wagner
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„Dass ich Schauspieler bin, weißt du von Rüdiger. Ich habe ein Bild von dir auf seinem Schreibtisch bewundert, und er hat mir erzählt, dass du meine Serie abgrundtief schlecht findest.“ Ich bin sprachlos. So viel Ehrlichkeit sollte doch keine Zunge sprechen, und Rüdiger entwickelt sich immer mehr zu einem billigen Tratschweib.
„Nein“, heuchle ich munter, „ich finde nur die Drehbücher schlecht, ich habe Rüdiger sogar empfohlen, sich dort als Regisseur zu bewerben.“ Vielleicht gelingt es mir, mich freizusprechen.
Bei dieser Serie hätte er endlich einmal Kontakt zu seinem realen Niveau gefunden und würde nicht länger frustriert in seiner Bude hocken. Schon wieder bin ich von Axels Duftwolke vereinnahmt, diesmal ist sie aber nicht mehr so aufdringlich. Er hat sich auf der Suche nach mir in Bewegung gesetzt und damit seinen Geruch subtil in Rüdigers Zweizimmerwohnung verteilt. Wirkt bestimmt genauso gut wie ein Antitabak-Spray.
Langsam ziehe ich meine Krallen wieder ein, und dann verschwinde ich mit Axel in der Küche auf der Suche nach neuen Getränken.
Nach dem vierten Caipirinha finde ich Axel immer lustiger und lache über jeden noch so kleinen Witz. Er ist wirklich ein richtig guter Typ, und ich kann verstehen, dass er mit einer Hauptrolle in einer Serie besetzt wurde.
Er leidet natürlich sehr unter dem Zeitdruck, unter dem er arbeiten muss, und der schwachen Regie, mit der er jeden Tag konfrontiert wird. Und tatsächlich sehe ich Axel mittlerweile mit anderen Augen.
Seine Gage hat er größtenteils in einer Zweizimmer-Eigentumswohnung angelegt. Zum einen wegen der Steuer, und dann muss auch er an die Sicherheit denken, die er sehr in seinem Leben braucht. Er ist schließlich Steinbock!
Wie schön. Auch ich war schon immer ein Mensch mit einem großen Sicherheitsgefühl. Mehr als alle Steinböcke auf dieser Welt zusammen.
Dieser Beruf ist das reinste Selbstmordkommando für meine Seele. Am liebsten hätte ich ein Haus mit Garten, Kinder, einen unkonventionellen Traummann an meiner Seite und einen Hund, der nie stinkt. Dies alles ist ferner als die Marsbesiedelung, und Axel kommt immer näher. Wir gehen tanzen. Eigentlich hasse ich es, auf Partys meinem körperlichen Selbstausdruck freien Lauf zu lassen. Wenn es nicht auf der Bühne oder beim Film verlangt wird, bin ich privat der reinste Anti-Tänzer.
Wir entern die Mitte von Rüdigers Wohnzimmer, den ich nirgendwo entdecken kann. Eigentlich habe ich ihn wirklich nur gesehen, als ich gegen halb neun Hunger bekam und mich zu seiner Wohnung in Bewegung setzte. Als ich hier eintraf, hatte ich im ersten Augenblick einen Schreck bekommen. Rüdiger öffnete mir kahlgeschoren die Tür. Er hatte seine dichten braunen Locken abrasiert. Genauso wenig könnte ich mir Paris ohne Eifelturm vorstellen. Aber er hatte es getan.
Rüdigers Haarpracht ergänzte sich ausgezeichnet mit seinem jungenhaften Charme. Jetzt wirkte er wie ein älter gewordener amerikanischer Soldat, der sein Haar nicht ergrauen sehen will.
Was war so schlimm daran, vierzig zu werden?
Doch nun waren nicht nur seine Haare verschwunden, sondern auch Rüdiger. Er wird doch nicht seinen Geburtstag verpassen wollen, in den wir gerade immer lustiger hineinfeiern.
Zum Glück wird gerade nicht „I will survive“ gespielt, denn das ist immer der Höhepunkt jedes Ausdruckstänzers, und mit Axel bin ich gerade gar nicht in „I will survive“-Stimmung. Obwohl solche Geburtstagsfeste immer Mittelpunkt vergangener Musikerfolge sind.
Nein, das Schicksal kennt unsere Situation genau und spielt eine ruhige Klavier-und-Harfen-Version von Bon Jovi: „It’s my live.“
Ich ergebe mich und sinke in Axels Arme. Meine Nase steckt tief in den Maschen seines kamelfarbenen weichen Kaschmirpullis, und ich bin froh, dass ich mein Make-up nicht aufgefrischt habe.
Beim Versuch, meinen besoffenen Kopf wieder einigermaßen gerade zu halten, lande ich direkt an Axels Wange.
Sie fühlt sich wie ein zärtliches Reibeisen an, dem man vertrauen kann. Sein Aftershave riecht so verführerisch auf seiner Haut, dass es mich fast wahnsinnig macht. Ich verspüre den Drang, noch näher zu kommen, und verstehe nicht mehr, was ich jemals gegen Axel hatte. Langsam nähern sich meine Lippen seinem Mund, mein ganzer Körper steht in Flammen, und ich möchte am liebsten die Zeit anhalten. Es ist Mitternacht. Das schrille Klingeln eines Weckers lässt mich aus allen Wolken der Leidenschaft fallen.
Leider kommt es nicht zur heiß ersehnten ersten intimen Begegnung mit Fernsehaxel. Das Licht wird gelöscht, alle singen unerkannt und lautstark „Happy Birthday“. Nach der dritten Wiederholung findet zum Glück ein unbekannter Retter den Lichtschalter und macht diesem gesanglichen Albtraum ein Ende.
Aber wo war das Geburtstagskind?
Auf dem Balkon finde ich Rüdiger in drei Decken gehüllt und in einer tiefen Krise. Er muss dort schon Stunden sitzen. Zu lange, um sich noch vom Geländer zu stürzen. Seine Augen sind auf den Horizont gerichtet, den ich nicht mehr mit bloßem Auge entdecken kann. Sein Blick richtet sich in diffuse Fernen.
Ein Dasein, das keine Kommunikation erwartet. Ich entschließe mich trotzdem zu bleiben. Er scheint mit der Leichtigkeit einer Feder durch das Tal seiner Gefühle zu gehen. Durch sein Leben. Ich war mir gerade nur nicht sicher, an welcher Stelle er stand.
Jetzt ist Rüdiger vierzig geworden, und das scheint etwas in ihm in Bewegung gesetzt zu haben. Vielleicht wollte er einfach nur, dass an dieser Lebensmarke ein paar Menschen in seiner Nähe sind. Trotzdem scheint er allein in seiner Welt zu sein.
Es ist gerade leider nicht der richtige Augenblick, ihn darauf anzusprechen, eine Filmcatering-Firma zu gründen.
Obwohl sein Buffet wie immer traumhaft war. Wir bleiben alleine auf dem Balkon. Schweigend.
Keiner vermisst uns, und wir scheinen von allen anderen abgekoppelt zu sein. Es gibt unzählige Welten in der einen. Und wo sind wir?
Ich nehme ihn wortlos in meine Arme. Halte ihn fest, in der ersten halben Stunde seines neuen Jahrzehnts. Rüdiger heult in meine Fleecejacke hinein, und ich habe das Gefühl, er wird nie wieder damit aufhören. Ich wusste nicht, dass ein Mensch so viele Tränen weinen kann wie mein Freund Rüdiger.
Rüdiger ist ein Mensch, den ich tief und leise in meinem Herzen liebe – wortlos. Liebe kommt ohne einen Buchstaben aus. Für die wichtigen Dinge im Leben braucht man kein einziges Wort. Nur ein Herz.
Mein Freund verlässt wortlos seinen luftigen Balkonplatz mit einem Danke sagenden Wangenkuss. Sein Platz wird zu meinem.
Ich beobachte Rüdiger durch die Fensterscheibe, die Musik legt sich gedämpft auf die Brustseite meines Körpers, und meinen Rücken streichelt kalt die Nacht.
Tausend Sterne am Himmel und einer für mich. Die Welt ist immer für uns da. Ich liebe die Nacht. Wie ein stiller Beobachter hört sie unseren Gedanken zu, hüllt uns in ihren Sternenmantel. Manchmal streichelt der Wind sanft unsere Wange, wie zum Trost. Ich küsse zum Dank die Sterne.
Rüdiger ist wieder auf seinem Fest und lässt sich von den zahlreichen Sonnenschein-Menschen feiern, noch bis in die Morgenstunden. Nach seiner nächtlichen Balkonsitzung wirkt er wie neu geboren. Ein neues Kapitel Leben beginnt.
Ich finde Axel in einer Ecke des Wohnzimmers. Er lässt sich gerade von einer Blondine bewundern und flirtet, als hätte es mich nie gegeben. Er bemerkt mich nicht einmal.