100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 1. Erhard Heckmann
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So unangenehm der Regen auch ist, wir müssen raus, denn heute passieren wir mit den „Wrangell-Narrows“ eine der kritischsten Stellen dieser Route. Sie trennt Mitkof Island von ihrem nahen Nachbarn Kupreanof Island, und diese 36 Kilometer zwischen den beiden Inseln muss man an der Reling erleben. Am besten ganz vorn am Schiff, egal bei welchem Wetter. Diese Engstellen, wo die Gezeiten zwischen zehn und 480 Zentimeter schwanken, sind für ihre vielen Navigationszeichen berühmt, und wenn das Wasser hier durchschießt, ist das Navigieren kein Kinderspiel. Der Fahrplan ist auf die Flut abgestimmt, denn nur bei dieser reicht die Wassertiefe aus, um im Slalom und Schritttempo die Felsriffe zu umgehen. Und wenn sich die Fahrrinne fast auf Schiffsbreite verengt, dann stehen neben den vielen Seezeichen, die jene markieren, Untiefen oder Felsen anzeigen, auch Männer mit langen Stangen am Ufer und rufen denen, die auf dem Vordeck zu ihnen die Verbindung halten lautstarke Worte zu, um bei der Navigation der großen Fähre zu helfen. Es ist unglaublich, wie der Kapitän hier „rangieren“ muss. Links, rechts, nochmals rechts und wieder links. Meter für Meter schiebt sich der Riese hier am Ufer entlang bis er wieder freies Wasser erreicht. Schade, dass es gerade auf diesem Stück des Weges in Strömen regnet und die Videokamera in der Kabine bleiben musste. Mit oder ohne, wir halten durch. Und zwar solange, bis die Schiffsmotoren wieder in ihren regulären Takt verfallen und dieses Spektakel hinter uns liegt. Danach bleibt gerade noch genügend Zeit, um die nassen Schuhe und Anoraks zu wechseln, und mit einem Hochprozentigen an der Bar innerlich aufzuwärmen, ehe die Dieselmotoren am späten Nachmittag die Fähre mit leichtem Zittern ihres Rumpfes an das Dog von Petersburg manövrieren.
Petersburg ist ein geschäftiges Örtchen am Nordende des Mitkof-Islands mit dem Spitznamen „Little Norway“, 1897 von Peter Buschmann gegründet, Fischereihafen mit etwa 3.000 Einwohnern, Hotel, Lodge, B&B’s, Restaurants und Touren, wie es sich für diese Gegend gehört, zu Bären, Gletschern und Walen. Bis zum südlichen Ketchikan sind es 110 Meilen, nach Juneau im Norden zehn mehr. Die Insel ist bergig und dicht bewaldet wie die meisten anderen auch, und der Crystall Mountain mit 1.011 Meter die höchste örtliche Erhebung. Wäre der Blick heute frei, dann läge das winzige Städtchen mit seinem Hafen, den die großen Kreuzfahrtschiffe nicht anlaufen können, vor einer schönen Kulisse aus Wasser, Wald und verschneiten Bergen am nahen Horizont, aus denen die Spitze des Devils Thumb herausragen würde. Uns zeigt sich leider nur der nasse Beton der Anlegestelle, das historische, weiße Gebäude der „Sons of Norway Hall“ und die Idylle von verwitterten Bootshäusern an der Waterfront. Selbst ein schneller Marsch zu den frischeren Farben am Nordic Drive und der Sing Lee Alley, Zentrum des Ortes und größtenteils auf Pfählen über dem Hammer Slough ruhend, ist uns nicht vergönnt. Die Liegezeit hätte ausgereicht, aber was derzeit an Regen aus den Wolken fällt, das ist mehr als das, was auf die berühmte Kuhhaut geht. Was bleibt ist Zuschauen, unter Lederhut und Regenumhang, wie ein paar LKW und drei Wohnmobile über den Landesteg poltern, während einige mehr aufs Einladen warten. Hier und dort wird noch andere Fracht bewegt, und dann macht sich die Fähre auch schon wieder für die Ausfahrt fertig aus einem Hafen, der über die größte Heilbutt-Fangflotte verfügt, und in dessen zugehörenden Fischfabriken aus den Früchten des Meeres jährlich etwa 40 Millionen Dollar erwirtschaften werden. Ob ich wiederkommen möchte? Wahrscheinlich nicht. Fern vom Touristenrummel gibt es zwar einige schöne Unternehmungen an frischer Luft, doch ob nicht vielleicht doch das romantische Foto vom Hammer Slough mit seinen kleinen Stelzenhäusern vor verschneiter Bergkulisse das „Schönste“ an Petersburg ist, ich vermag es nicht zu sagen. Das Foto jedoch, das auf allen Alaska-Kalendern prangt, das hätte ich schon sehr gern gehabt.
Unser nächster Hafen ist Sitka, und der Weg an die Westküste des Baranof Islands ist ebenfalls wieder „steinig.“ Zweimal, hin und zurück, muss die Fähre durch die enge Peril Strait und die Sergius Narrows, die die Baranof Insel von Chigagof Island trennen. Bei der Hinfahrt wird es Nacht sein, denn unser Schiff legt morgen früh 2.30 Uhr n Sitka an und gegen 5 Uhr wieder ab. Dass dennoch Taxifahrer zur Fähre kommen, um Durchreisenden während der wenigen Nachtstunden wenigstens die alte russische Kirche und einige andere Dinge zu zeigen, ist mir bekannt. Es ist auch nicht die Frage, ob sich das lohnt oder nicht, sondern, ob wir jemals wieder einen Fuß in den russisch geprägten Ort setzen werden. Normalerweise nicht, doch mit diesem Land scheint alles anders zu sein, denn es zieht uns jetzt schon an wie ein Magnet. Momentan ist mir jedoch der Becher mit dem heißen Kaffee, den Sabine aus der Kombüse geholt hat, wichtiger. Er verkürzt uns beim Auslaufen unter dem überdachten Heck die Zeit und lässt Petersburg im kalten Regen immer kleiner werden.
In den kommenden Stunden wird unser Schiff um Kupreanof Island einen Bogen schlagen, dann, für etwa 60 Kilometer, nordwärts steuern und dabei die „Bäreninsel“ Admiralty Islands zu seiner Rechten haben, ehe sich der Kapitän wieder westwärts orientieren muss. Kake, am Nordende der Kupreanof Insel, wird von diesen Fähren nicht angelaufen. Wer die Pools aller Tlingit-Klans sehen möchte, die dort neben Alaskas höchstem Totem Pool (46 Meter) präsent sind, muss eine andere Fähre wählen. Bekannt ist der kleine Ort, wo Wasser und Wald bis an die Haustür reichen, auch bei den Kajakfahrern, weil dort die Touren in die Kuiu-Wildnis starten. Bei diesem Wetter kein besonders guter Gedanke. Wir suchen uns lieber in einem der Salons ein schönes Plätzchen am Fenster und lassen die Welt aus Inseln, Wasser, Wald und Bergen bei einem Drink vorüberziehen.
So intensiv die tief hängende Wolken, Regen und Nebelschleier Alaskas wunderschöne Küste bisher vor uns verbargen, so ähnlich muss die Bettdecke heute Nacht meine Ohren vor dem Reisewecker versteckt haben. Erst jetzt, als lautes Kettenrasseln, schrille Stimmen und aufheulende Motorengeräusche zu vernehmen sind bin ich hellwach und ruckzuck an der Reling. Wir waren in Sitka, und die Crew beim ausladen. LKWs, Wohnmobile, Lieferwagen und PKWs verließen schon rumpelnd ihr Deck, und jenseits der lichtspendenden Lampen war es um 2.45 Uhr noch ziemlich dunkel. Von der Stadt war sowieso nichts zu sehen, denn zwischen ihr und dem Fähranleger liegen etwa elf Kilometer. Und der gestrige Gedanke mit dem Taxi? Der war sofort gestorben, weil auch hier kalter Wind und peitschender Regen alles im Griff haben. Also ab ins Warme, den Wecker auf 4 Uhr 45 stellen und vor dem Ablegen wieder unter die Bettdecke huschen. „Gefühlt“ war diese warme Zeit nicht mehr als zehn Minuten, doch brachten uns die schrecklichen Klingeltöne dennoch wie geölte Blitze auf die Beine. Der Grund: Vor dem Schiff lagen erneut die engen Passagen, die es in der Nacht schon einmal durchfahren hatte, denn mit dem Ziel Juneau geht das nicht anders. Und das wollen wir keineswegs verpassen. Das Wetter lässt sich zwar auch jetzt noch nicht wirklich definieren, aber immerhin ist es trocken.
Sitka hat eine lange, eine russische Geschichte. Vor etwa 8.000 Jahren war der Vulkan Edgecumbe, dessen kegelförmige Silhouette sich im Westen erhebt, ausgebrochen, und auf den Fox-Inseln lebten Aleuten-Jäger. Später war im heutigen Sitka der Kiksadi-Klan der Tlingit-Indianer zu Hause und nannte seine Ansiedlung Shee Atika. 1741 ging der Däne Vitus Bering auf seiner Forschungsreise durch den Nordpazifik als erster Europäer in Alaska an Land und nahm es für seine Heimat in Besitz. Achtundfünfzig Jahre später ließ sich, auf der Suche nach Pelzen, Alexander Baranof sechs Meilen nordwestlich der heutigen Stadt, zu Old Sitka, nieder, und das Fort St. Michael, das die Russen hier erbauten, vernichteten die Indianer 1802 aus Protest gegen ihre Unterdrückung. Baranof, der „Lord of Alaska“, rächte sich grausam. Er brannte die Häuser der Indianer umgehend nieder, übernahm ihren „Castle Hill“, baute zwei Jahre später ein neues