100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 1. Erhard Heckmann
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In den großen Nationalparks geht man nicht direkt ins Hinterland, sondern wendet sich an Ranger, Boots- oder Trail-Führer. Das erspart genauere Orts- und Verhaltenskenntnisse und schützt vor unbedachten Unternehmungen. Die Landkarten sollte man nicht mit europäischen Augen betrachten, denn die Entfernungen können gewaltig sein, und viele Ortschaften sind oft nicht mehr als Service-Stationen. Tankstelle, Motel, ein paar Gewerbe und eine Handvoll Häuser. Gemütlich und schön sind die meisten sowieso nicht, doch Ausnahmen wie Dawson City, Skageway oder Ketchigan mit ihrem speziellen Flair, oder größere Zentren wie Anchorage oder Fairbanks finden sich natürlich auch. Was sich jedoch aneinanderreiht, das sind beeindruckende Landschaften. Und einen großen Teil davon erschließt der Alaska Highway, der heute asphaltiert von Dawson Creek bis nach Fairbanks zieht, obwohl es ab Delta Junction eigentlich der Richardson Highway ist, der die letzte Lücke schließt.
Und dort, wo die Berge auf das Meer treffen und sich der schmale Festlandstreifen Südostalaskas am Westhang der Küstengebirge ausbreitet, kommt auch der Schiffs-Tourist erstmals mit „Southeast“ in Kontakt. Von üppigem Pazifischen Regenwald überwuchert drängt sich das wegen seiner Pfannenstilform „Panhandle“ genannte Gebiet rund 800 Kilometer nordwärts und ringt, zusammen mit seinen unzähligen vorgelagerten Inseln dem Meer etwa 50 Kilometer Breite ab. Und die wichtigste Verkehrsader dieser Region ist die Inside Passage. Für die kleineren Boote der Fischer ebenso, wie für die strahlend weißen Kreuzfahrtschiffe oder die großen Fähren. Unterwegs schicken die Eisfelder der Bergzüge zahlreiche Gletscher hinunter zur fjorddurchfurchten Küste, wo der dunkle, dichte „Tongass National Forest“, der größte Regenwald dieser Art auf unserem Globus, an den Wassern des Ozeans sein Ende findet. In den Fluten tummeln sich Wale, Seelöwen, Seeotter und riesige Heilbutts, und von felsigen Inseln schwingen sich Adler, Reiher und viele Arten von Seevögeln in die Lüfte. Kühle, feuchte Sommer und milde, schneereiche Winter sorgen für gewaltige Zedern, Hemlocks, Fichten, Farne und Moose und verleihen diesen Wäldern ein märchenhaftes Flair.
Und nur dann, wenn kontinentale Eiseskälte aus dem Landesinneren durch die Fjorde weht und der Kuro-Shiwo-Strom kein warmes Meerwasser aus japanischen Gewässern heranspült, dann sinken auch in diesen fischreichen Gewässern die winterlichen Temperaturen unter den Gefrierpunkt. Unterwegs wird die Fahrrinne für die großen Fähren hier und dort sogar so eng, dass diese „Narrows“ nur bei Flut befahren werden können und jeder ihrer Meter haarscharf navigiert werden muss. Diese schmalen Passagen, ganz besonders die zwischen Wrangell und Petersburg als auch Juneau und Sitka, bestimmen auch die unterschiedlichen Abfahrtszeiten, denn die Fahrpläne müssen sich dem Wechsel zwischen Ebbe und Flut anpassen.
Südostalaska ist auch die Heimat der Bären, Indianer und deren Geschichten. Noch heute erhalten Zweige der Tlingit, Haida und Ts’imschian ihre Kultur durch Musik, Tanz und Kunst lebendig. Dass diese Ureinwohner ihre künstlerischen Fähigkeiten so verfeinern konnten, lag an der Fülle, mit der ihre Gewässer gesegnet waren. Robben, Seeottern, Heilbutt, Lachs, Krabben und Langusten versorgten die Indianer dieser Region so reichhaltig mit Nahrung, dass ihnen viel Zeit blieb, sich ihrer handwerklichen Kunst zu widmen. Und besonders dort, wo heute die großen Touristenschiffe anlegen, findet sich zwischen den üblichen Angeboten auch so manches großartige Stück, das allerdings auch nicht „verschenkt“ wird. Zu finden sind hier auch die Spuren skandinavischer, russischer und anderer Pioniere, oder die der Goldsucher, und sie alle haben ihren Einfluss hinterlassen. Ziemlich gründlich waren auch die Pelzjäger, denn sie hatten die Otter fast ausgerottet. Aber richtig, und ziemlich plötzlich, aufgewacht ist der nördliche Riese Alaska, der nach dem Kauf durch Amerika noch länger schlief, jedoch erst, als die Welt vom Ruf des Goldes aus seiner Wildnis erfuhr. Gleichzeitig entstanden auch unzählige Dosenfabriken, die den reichlich vorhandenen Fisch bis zur Gefährdung einzelner Arten verarbeiteten. Heute sind die beiden Hauptstandbeine – Holzschlag und Fischfang – kontrolliert, und neben Gas, Öl und andere Rohstoffe kam in den letzten Jahren ein drittes hinzu, die Wachstumsindustrie Tourismus. Gewaltige, weite und einsame Landschaften, wilde Tiere, die Geschichte der Indianer, Pelzhändler, Pioniere und das Gefühl von Freiheit und Eintauchen in das „Gestern“ ziehen inzwischen Tausende Menschen aus der ganzen Welt an, und nicht wenige von ihnen kommen über die Inside Passage ins Land.
Die Reise auf der Inside Passage, die den Seeweg vor der Küste Alaskas und British Columbias mit einer Küstenlänge von etwa 1.500 Meilen und 1.000 Inseln bezeichnet, ist allerdings auch Glückssache, denn nicht immer gewährt das Wetter Einblick in die ganze Schönheit ihrer Umgebung. Und auch bei unserer ersten Fahrt war es nicht anders. Sonne in den Gewässern von British Columbia, und die drei Grundfarben verhangener Sommertage, als die Fähre ihren Weg in Alaska fortsetzte: Verwaschenes Weiß, Grau und dunkles Grün, für Gletscher, Wasser und die Masse der Nadelwälder. Und diese müde Farbpalette erinnerte mich auch sofort an einen Tischnachbarn in Prince Ruppert, der die vier Jahreszeiten in Alaska mit Juni, Juli, August und Winter bezeichnete und anfügte, dass jeder Einheimische in den ersten drei sein Geschäft mit dem Tourismus gemacht haben müsse. Und weil die meisten Besucher im Juli Alaska und den benachbarten Yukon ansteuern, ist er auch der absolut teuerste Monat des ganzen Jahres. Wir haben diese Zeit ganz bewusst umgangen und sind Mitte August auf dem Weg nach Norden, denn auch ein nicht ganz so schöner Tag stört uns nicht wirklich, und jenseits der Küste herrschen ganz andere Bedingungen. Jede Reise ist immer auch ein Kompromiss, und das Wetter muss man nehmen wie es ist und hoffen, dass weltberühmte „Bilderbuchfotos“ nicht gerade dann verregnet und grau sind, wenn man selbst vor ihnen steht. Alaska und der kanadische Yukon sind auch das Land der Mitternachtssonne, des Nordlichtes und die letzte große Wildnis Nordamerikas. Für erstere war es schon zu spät, der Rest aber reicht aus, um hellauf begeistert zu sein. Es ist eben wie mit anderen Dingen auch. Man kann nicht immer alles haben, aber jede Zeit hat ihre eigenen Reize. Für das wunderschöne Bunt des Herbstes und die gewaltigen Geweihe der Elchbullen zahlt man mit früher Dunkelheit und gelegentlichen Nullgraden am frühen Morgen. Die Mitternachtssonne spendiert enorm lange Tage, und der Weg, den sie erhellt, führt durch zartes Grün und erste Frühlingsblumen, aber so manche Schotterstraße ist dann noch nicht geglättet oder so schlecht, dass das Ziel gestrichen werden muss. Dafür stehen die Chancen gut, um links und rechts des Weges auf neues Leben in der Tierwelt zu treffen. Also doch lieber den teuren Monat „schlucken“? Für das ganz große Schauspiel der Weißkopf-Seeadler nützt aber auch das nichts, denn es findet schon im Januar statt, wenn der Winter Alaska mit eisiger Hand regiert.
Gegen 5 Uhr morgens erreichen wir Ketchikan. Die Zeit, um den Ort zu erkunden ist zu kurz, aber entgehen lassen kann ich mir den ersten Hafen in Alaska auf keinen Fall. Und daher stehe ich, wenn auch etwas fröstelnd, schone einige Zeit an der Reling, ehe sich die große Fähre Zentimeter um Zentimeter längsseits an das Dock herantastet. Mehrfach drehen die Motoren kurz hoch, und jedes Mal geht ein leises Zittern durch das Schiff. Zwischendurch ein paar Zeichen vom Bodenpersonal hinauf zur Brücke oder ein paar Rufe, die ich aber nicht verstehe. Kurz darauf sind die Passagiere, die vorhin noch vor der Treppe zum Auto-Deck anstanden, verschwunden, der Anker rattert und starke Taue werden um kurze Eisenpfosten geschlungen. Das ganze Manöver läuft ab wie ein Uhrwerk. Präzise. Schnell. Unauffällig. Jeder Griff sitzt. Dann öffnet sich auch schon der Bauch des Schiffes und Sekunden später rollen die ersten Fahrzeuge an denen vorbei, die noch mitkommen möchten. An anderer Stelle werden inzwischen Kisten, Fässer, Paletten und übriges Frachtgut ein oder ausgeladen, und nach kurzer Zeit ist der ganze Spuk schon wieder vorbei und das Schiff macht sich fertig um auszulaufen. Das Wetter ist jetzt schlechtweg unangenehm, kalt und grau in grau mit leichtem Regen. Da empfiehlt es sich doch, die Bettdecke nochmals weit über die Ohren zu ziehen, um sich aufzuwärmen.
Das hiesige Land gehörte einst einem Flathead-Indianer. Er verkaufte es, und 1900 entstand ein Ort, der in der Sprache der Ureinwohner „Kitschkhin“, die donnernden Flügel des Adlers, hieß. Als sich Waldarbeiter,